Schwarzer Regen
er an diesem Wochenende tun konnte. Nun stand er hier, den Kaffeebecher in der Hand, nutzlos, sinnlos.
Schließlich atmete er tief durch, kippte den halben Kaffee weg und griff sich seine Jacke. Heute würde er sich der Realität stellen und Bens Grab auf dem Volksdorfer Friedhof besuchen. Er hatte es lange genug aufgeschoben.
Er ging in den kleinen Blumenladen an der Ecke und erschrak beinahe, als er Fabienne Berger erkannte, die gerade einer alten Dame einen Strauß einwickelte. Er hatte nicht daran gedacht, dass sie hier arbeitete. Sie sah auf und lächelte ihn an.
Er versuchte zurückzulächeln, doch das misslang. Also wandte er den Blick rasch ab und sah sich im Laden um. Er hatte keine Ahnung, was für Blumen man auf ein Grab stellte. Es war überhaupt schon eine ganze Weile her, dass er auf einem Friedhof gewesen war, einmal abgesehen von Bens Beerdigung. Nachdem sein Vater vor zwölf Jahren gestorben war, hatte er dessen Grab zwei oder drei Mal besucht, zusammen mit Martina. Sie hätte ihm sagen können, welche Blumen man nahm. Weiß vielleicht? Er entdeckte einen Strauß kränklich gelber Rosen, die ihn an Bens Hautfarbe erinnerten, als er so auf dem Feldbett gelegen hatte. Nein, die definitiv nicht.
»Guten Tag, Herr Pauly. Kann ich Ihnen helfen?« Er hörte Mitleid in ihrer Stimme. Sah er wirklich so schlimm aus?
»Einen Strauß Blumen, bitte«, sagte er. »Für ein Grab.«
|199| »Oh. Es … es ist für Ihren Sohn, nicht wahr? Es tut mir so leid, was passiert ist.« Sie strich sich verlegen durch ihr dunkles, lockiges Haar. »Ich habe das Bild von Ihnen gesehen, in der
Rasant
. Es … ich weiß nicht, was ich sagen soll.«
»Schon gut«, sagte Lennard. Dieser vermaledeite Artikel! Er hatte praktisch die ganze Ausgabe der
Rasant
gefüllt, die kurz nach der Katastrophe erschienen war. Vorne auf dem Titelbild hatten sie eine junge Frau abgebildet, die ihr totes Baby an die Brust presste, während ein bandagierter Mann neben ihr, augenscheinlich der Vater, wütend in die Kamera blickte. »Zorn« hatte in großen, roten Buchstaben darüber gestanden.
Zum Glück war das Foto von Lennard in dem Artikel nur ziemlich klein. »Ein Vater trauert um seinen Sohn, der von der Bombe tödlich verstrahlt wurde«, stand daneben. Es war die Wahrheit, aber Lennard störte es, dass dieser intime Moment so in die Öffentlichkeit gezerrt worden war. Er hatte damals nicht einmal bemerkt, dass er fotografiert worden war.
»Es tut mir leid, ich wollte Ihnen nicht zu nahetreten …«
»Schon okay.«
»Woran hatten Sie denn gedacht? Schnittblumen, oder eher ein Gesteck?«
Lennard zuckte mit den Schultern. »Ehrlich gesagt, kenne ich mich nicht so aus.«
»Hatte … Ihr Sohn eine Lieblingsfarbe?«
Lennard dachte nach. »Ich weiß es nicht«, bekannte er nach einer Weile.
»Dann vielleicht rote Rosen?«
Rote Rosen? Schenkte man die nicht eher seiner Frau oder Geliebten? Andererseits waren sie das Symbol der Liebe, und auch wenn Lennard die Liebe seines Sohnes enttäuscht |200| hatte, war sie doch das Einzige, was ihn über den Tod hinaus mit Ben verband. Er nickte.
Fabienne Berger fragte nicht danach, wie viele Rosen er wollte. Sie band einen schönen Strauß, ohne störendes Grünzeug, und wickelte ihn ein. Dann drückte sie ihm noch eine grüne Plastikvase mit einem langen Stiel in die Hand. »Das macht sechzehn fünfzig, bitte.«
Lennard bezahlte. »Danke«, sagte er zum Abschied.
Sie lächelte traurig.
Bens Grab befand sich auf einer großen Freifläche inmitten Dutzender Gräber, die alle zur gleichen Zeit ausgehoben worden waren. Sie waren ringförmig um eine runde Fläche in der Mitte angeordnet worden, auf der ein Mahnmal für die Opfer von Karlsruhe errichtet werden würde, sobald der Künstler es fertiggestellt hatte – so hatte es ihm der Beerdigungsunternehmer damals erklärt, als er ihm die Lage des Grabes auf einem Plan gezeigt hatte.
Lennard hatte nur genickt. Die anderen Opfer von Karlsruhe waren ihm egal. Wäre es nach ihm gegangen, hätte er Ben an einer einsamen Stelle unter einem alten, hohen Baum begraben. Ben hatte Bäume geliebt. Als Kind war er begeistert auf ihnen herumgeklettert, und als ein Herbststurm einen Baum auf seinem Schulweg umriss, hatte er geweint. Doch einsame Plätze waren auf dem Volksdorfer Friedhof längst nicht mehr zu bekommen, schon gar nicht jetzt.
Das Grab war mit einem schlichten Holzkreuz markiert. »Benedikt Pauly« stand darauf sowie sein Geburts- und
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