Schwarzer Regen
erkannte das Kopftuch unter der Kapuze. Die Frau wohnte im fünften Stock, eine tapfere Albanerin mit zwei frechen kleinen Kindern und einem Mann, der den ganzen Tag vor dem Fernseher saß und soff.
Drei junge Männer bogen hinter ihr um die Häuserecke. Sie hatten sich die Köpfe kahlrasiert, trugen Lederjacken und Springerstiefel. Einer von ihnen hatte sich vier Buchstaben auf die Stirn tätowieren lassen. Er wies auf die Frau und rief etwas.
|196| Die Frau begann zu laufen, aber sie war nicht schnell genug. Die Glatzköpfe erreichten sie kurz vor der Haustür und hielten sie an ihrem Regenmantel fest. Sie rissen ihr die Plastiktüten aus den Händen und leerten den Inhalt auf den Boden aus. Sie zertraten Nudeln, Eier, Toastbrot und Milchtüten mit ihren schweren Stiefeln, während sie die Frau beschimpften. Einer hielt triumphierend ein Sechserpack Bierflaschen hoch. Dann marschierten sie davon, während die Frau auf dem Boden herumkroch und versuchte, wenigstens ein paar Reste von ihrem Einkauf für ihre Familie zu retten.
Lennard wandte sich ab, erfüllt von einer Mischung aus Mitleid, Ekel und Gleichgültigkeit. Seit der Katastrophe hatte sich Deutschland verändert. Immer mehr Menschen rasierten sich die Schädel; aus Solidarität mit den Strahlenopfern, die ihre Haare aufgrund der Verstrahlung verloren hatten, wie es hieß. Es waren nicht nur Jugendliche – ganz gewöhnliche Bürger liefen neuerdings mit Glatze oder Stoppelschnitt herum, vom Gabelstaplerfahrer bis zum Vorstand, darunter auch viele Frauen. Skinheads waren gesellschaftsfähig geworden, und Übergriffe auf Ausländer geschahen immer häufiger. Lennard konnte den Zorn der Menschen nur zu gut verstehen, auch wenn er wusste, dass die Frau, die das Opfer des Angriffs gewesen war, vollkommen unschuldig war – sie war, soweit Lennard wusste, nicht einmal Muslima und hatte ihr Kopftuch vermutlich nur wegen des trüben Wetters umgebunden.
Früher hatte er sich eingebildet, in solchen Situationen eingreifen zu müssen. Er hatte sich als Schutzengel gebärdet, als barmherziger Samariter. Er hatte so getan, als sei er für das Schicksal der fremden Menschen um ihn herum verantwortlich, und hatte gleichzeitig den einen Menschen, der ihm wirklich anvertraut gewesen war, im Stich gelassen. Er hatte versucht, den Menschen im Wohnblock eine Art |197| Übervater zu sein, dabei war er der schlechteste Vater, den man sich vorstellen konnte.
Vorbei.
Lennard machte sich noch einen Kaffee. Er hatte wieder schlecht geschlafen, wie so oft in den letzten Wochen. Es war immer derselbe Traum, der ihn verfolgte: Ben, wie er vor der riesigen grellen Wolke floh, die sich lautlos hinter ihm erhob, wie er versuchte, sich die brennenden Kleider vom Leib zu reißen. Nur, dass es nicht Ben war, sondern er selbst, der vor dem schrecklichen Feuer floh.
Er war in den letzten Wochen ununterbrochen im Einsatz gewesen. Der Anschlag hatte der Weltwirtschaft und besonders der deutschen Industrie einen schweren Schlag versetzt, doch die Sicherheitsbranche boomte, und Treidel Security bekam reichlich Aufträge.
Sein Job hatte ihm nie wirklich Spaß gemacht, obwohl er ihn gut machte. Doch jetzt stürzte er sich mit einer Besessenheit in die Arbeit, als könne er dadurch, dass er Industriespione und Geheimnisverräter überführte, irgendwie das Unrecht wettmachen, das über das Land gekommen war. In Wahrheit aber, soviel war ihm klar, ging es ihm nicht um Gerechtigkeit. Er wollte nur dieser inneren Leere entfliehen und den Selbstvorwürfen, die ihn fast in den Wahnsinn trieben.
Heute hatte er zum ersten Mal seit längerer Zeit frei. Es gab keine Zielperson, die er hätte beobachten können. »Sie sollten sich ein wenig schonen, Pauly«, hatte Roland Treidel gesagt. »Sie sind mein bester Ermittler. Es nützt mir nichts, wenn Sie mir irgendwann zusammenklappen.«
Lennard hatte beteuert, es gehe ihm gut, aber sein Chef hatte ihm die Lüge angesehen. »Ich weiß, wie Ihnen zumute ist. Diese schreckliche Sache hat uns alle aus der Bahn geworfen. Meine Kusine ist in Karlsruhe verbrannt. Hatte |198| zwei kleine Kinder, eines davon mein Patensohn. Aber das Leben muss weitergehen, so ist das nun mal.«
Ja, so war das nun mal. Das Leben ging weiter. Lennard war heute Morgen aufgestanden, mehr aus Gewohnheit als aus Notwendigkeit, hatte eingekauft, Staub gesaugt, ein paar Hemden gebügelt. Als er auf die Küchenuhr schaute, war es erst halb zwölf, und er hatte schon alles erledigt, was
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