Schwarzer Regen
aufzudecken, die Hintermänner des Anschlags zu entlarven. Dann war seine Schuld gegenüber seinem Sohn, den er im Stich gelassen hatte, gesühnt. |303| Dann konnte er endlich einen Schlussstrich unter sein bisheriges Leben ziehen und noch einmal von vorn anfangen.
Die Zeit verging langsam. Der monotone Lärm der Straße und Evas regelmäßiger Atem lullten ihn ein. Die Augen fielen ihm zu.
Als er sie öffnete, stand Eva vor ihm. Sie war nackt. Ihre kleinen, festen Brüste standen direkt vor ihm. Im schwachen Licht konnte er ihr Gesicht kaum erkennen, doch ihre Augen schienen zu glühen wie grüne Feuer.
Ihre Nähe war wie ein pulsierendes Kraftfeld, das den Raum ausfüllte und seinen Körper in heftige Schwingungen versetzte. In seinem ganzen Leben hatte Lennard noch nie solche Begierde gespürt wie jetzt. Er war unfähig, sich zu rühren.
Eva sagte kein Wort. Sie ergriff seine Hand. Er wollte Widerstand leisten, doch sein Körper schien ihm nicht mehr zu gehorchen. Sie zog ihn zu sich. Eng umschlungen fielen sie auf das Bett, küssten sich, liebten sich.
Lennard spürte plötzlich, dass sie nicht allein waren. Er drehte den Kopf. Neben dem Bett stand Ben. Nicht der Ben, den er im Zeltlager hatte sterben sehen, sondern der siebenjährige Ben, der sich lächelnd von ihm verabschiedet hatte, als er ihn zum letzten Mal sah.
Diesmal lächelte er nicht. Er sah Lennard nur mit seinen sanften, traurigen Augen an. Darin war plötzlich ein blendendes Licht, dann ging er in Flammen auf. Die Flammen griffen rasch auf das ganze Zimmer über, verzehrten alles, versengten Lennards Körper, seine Arme, sein Gesicht …
Er fuhr hoch. Sein Atem ging schnell. Nur langsam gewann er die Orientierung zurück. Er saß immer noch in dem Sessel, und Eva schlief ruhig in ihrem Bett.
Sein Arm und seine Wange schmerzten. Er musste sehr unbequem gelegen haben. War es das, was ihn geweckt hatte?
|304| Er stand auf, streckte sich, massierte die schmerzenden Stellen, hielt plötzlich inne. Durch den Schlitz unter der Tür fiel das Licht der Flurbeleuchtung. Doch der Lichtstreifen war an einer Stelle unterbrochen. Dort stand jemand!
Er ging leise zu seiner Jacke, die über dem zweiten Sessel lag, und holte die Pistole aus der Tasche. Er hatte seine Dienstwaffe, eine Glock 19, noch nie benutzt und es eigentlich immer überflüssig gefunden, eine zu tragen. Doch Treidel hatte darauf bestanden. »Man kann nie wissen«, pflegte er zu sagen. »Vielleicht werden Sie eines Tages entdeckt, während Sie gerade eine heikle Situation beobachten. Verzweifelte Täter können gefährlich sein, und die Chinesen sind nicht zimperlich. Wir sind nun mal im Sicherheitsgewerbe, und da müssen wir zuerst auf die Sicherheit unserer eigenen Leute achten.«
Zum ersten Mal war Lennard froh über Treidels Vorsicht. Er schlich zur Tür.
Tatsächlich, da war jemand. Er hörte, wie etwas in das elektronische Schloss geschoben wurde. Mit einem leisen Klick schnappte der Riegel der Tür zurück.
Mit ausgestreckten Armen richtete Lennard die Waffe auf die Tür, die sich jetzt langsam öffnete.
|305| 61.
Fabienne schreckte hoch. Sie blickte sich in dem dunklen Zimmer um. Die Digitaluhr auf dem Nachtschrank zeigte kurz nach zwei. Warum war sie aufgewacht? Hatte sie etwas gehört?
Sie stand auf und ging in Max’ Zimmer, doch er lag friedlich in seinem Bett, einen Arm um seinen Kuschelhasen gelegt, und schlief. Alles war in Ordnung. Doch ein vages Gefühl der Bedrohung blieb.
War es dieser seltsame Traum gewesen, der sie geweckt hatte? Sie hatte geträumt, sich selbst die Karten zu legen. Doch statt des Schicksalskreuzes, das ihre Großmutter ihr beigebracht hatte, oder einer der anderen bekannten Formen hatte sie sechs Karten in einer merkwürdigen Figur ausgelegt: Eine Karte lag in der Mitte, fünf weitere hatte sie sternförmig um diese zentrale Karte herum platziert.
Sie ging zurück ins Bett und versuchte, wieder einzuschlafen, doch der Traum ging ihr nicht mehr aus dem Kopf. Sie erinnerte sich noch deutlich an die Tarotbilder, die auf den Karten zu sehen gewesen waren. In der Mitte lag – natürlich – der Turm, der Zusammenbruch bestehender Ordnung, das Symbol des Anschlags von Karlsruhe und seiner Folgen. Die fünf äußeren Karten waren der Narr, der Eremit, die Königin der Schwerter, der Ritter der Stäbe und der Teufel. Die Karten hatten sich plötzlich erhoben und begonnen, um den Turm herumzutanzen, der jetzt ein reales Gebäude war, aus dessen
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