Schwarzer Regen
Dach Flammen schlugen und aus dessen Fenstern brennende, schreiende Menschen herabstürzten.
Eine Zeitlang versuchte sie, die Bilder aus ihrem Kopf zu |306| verdrängen. Schließlich gab sie auf und holte das Tarotspiel aus der Kommode. Sie öffnete das Kästchen, nahm die Karten heraus und strich mit den Händen über ihre geschmeidig glatte Oberfläche. Seit der Katastrophe hatte sie es nicht gewagt, sie anzurühren – zu groß war die Furcht vor dem, was die Karten ihr noch offenbaren würden.
Sie ging in die Küche, machte sich einen Tee und setzte sich an den kleinen Esstisch. Anstatt sie zu mischen, suchte sie die sechs Karten ihres Traums heraus und legte sie so hin, wie sie ihr erschienen waren. Der Narr und der Eremit lagen oberhalb des Turms nebeneinander, dann im Uhrzeigersinn die Königin der Schwerter, der Teufel und der Ritter der Stäbe.
Sie stellte fest, dass der Eremit und der Narr dichter beieinander lagen als die übrigen Karten. Sie wollte sie auseinanderschieben, um einen symmetrischen fünfstrahligen Stern zu legen, doch im selben Moment wusste sie, dass die beiden Karten zusammengehörten. Sie selbst war der Narr und Lennard der Eremit.
Einem Impuls folgend, ersetzte sie die beiden Karten durch das Motiv der Liebenden. Jetzt hatte sie wieder ein Schicksalskreuz: in der Gegenwart der Turm, in der Vergangenheit der Ritter der Stäbe, der für unkontrollierte Leidenschaft stand, an der Wurzel der Teufel – Lüge, Verführung, Fesselung, in der Krone die Liebenden. Die Zukunft wurde geprägt durch die Königin der Schwerter – die Macht der Logik und des Verstands.
Aus verzehrender Leidenschaft war durch Lüge und Illusion der Zusammenbruch entstanden, der jedoch durch die Liebe überwunden werden konnte, so dass am Ende die Vernunft triumphierte. Das war eine Möglichkeit, die Karten zu lesen.
Doch Fabienne spürte, dass mehr hinter diesem Bild steckte. Sie ersetzte die Karte der Liebenden wieder durch |307| die beiden großen Arkana aus ihrem Traum: den Narren und den Eremiten. Das Bild funktionierte nur, wenn aus diesen beiden Karten tatsächlich eine wurde. Und auch die übrigen Karten, das spürte sie jetzt ganz deutlich, waren nicht nur abstrakte Begriffe oder Kräfte. Es waren Menschen, handelnde Personen, die mit ihrem eigenen Schicksal und dem von Lennard verknüpft waren. Der Ritter der Stäbe mit ungestümer Leidenschaft und unbeugsamem Willen, die Königin der Schwerter mit glasklarer Logik und der Teufel mit Niedertracht und Lüge – sie alle formten das Bild, entschieden darüber, was sich aus dem Chaos der Zerstörung ergeben würde. Doch um wen es sich dabei handelte, konnte Fabienne beim besten Willen nicht sagen.
Sie betrachtete die Karten eine Weile. Der Narr und der Eremit. Ihre zarte, aufkeimende Liebe war der Schlüssel zu diesem Rätsel. Doch da war diese nagende Stimme in ihrem Hinterkopf, die ihr unablässig zuflüsterte, sie habe sich wieder mal in den falschen verliebt. Lennard werde sie sitzenlassen, genau wie Max’ Vater. In ihrer Vorstellung rückten der Narr und der Eremit immer weiter auseinander, bis sie auf gegenüberliegenden Seiten des Turms lagen und der Narr von lauter Teufeln umzingelt war.
Der Narr und der Teufel. Das passte wirklich zu ihr. Der Narr stand nicht für Dummheit, sondern für Lebensfreude und Sorglosigkeit, der Teufel nicht für das Böse an sich, sondern für Verführung, unterdrückte Lust, schlechte Angewohnheiten, Lüge und Illusion.
Sie war schon immer ein fröhlicher Mensch gewesen, der sich weniger Gedanken um das Morgen machte, als gut für ihn war. Sicher hätte sie einige Fehler in ihrem Leben durch etwas mehr Voraussicht vermeiden können. Vielleicht würde sie dann nicht als Angestellte für einen kargen Lohn in diesem Blumenladen arbeiten, ohne zu wissen, wovon sie Max das nächste Paar Schuhe kaufen sollte. Vielleicht |308| hätte sie sich dann schon längst ihren Traum von einem eigenen Geschäft erfüllen können. Vielleicht wären ihr viele Enttäuschungen erspart geblieben.
Ganz sicher hätte sie dann Max nicht zur Welt gebracht.
Er war eindeutig das Ergebnis der Vereinigung von Narr und Teufel: ein Lächeln, ein Kuss, schneller Sex, Lebensfreude und Verführung, die Illusion von Liebe und blinde Sorglosigkeit. Mit wahrer Liebe hatte das nichts zu tun gehabt. Trotzdem bereute sie diesen Fehler keine Sekunde. Sie lächelte, als ihr klar wurde, dass die auf den ersten Blick verhängnisvolle Kombination etwas so
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