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Schwarzer Regen

Schwarzer Regen

Titel: Schwarzer Regen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Masuji Ibuse
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wissen, was das ist“, meinte der
Mann mit den Augenhöhlen. „Auch ich spüre keinen Schmerz.“
    „Ich auch nicht — nicht den geringsten“,
pflichtete ich ihm bei.
    Wären unsere Verletzungen durch heißes Wasser
oder Feuer entstanden, dann hätten wir wenigstens zwei oder drei Tage unter
unerträglichen Schmerzen gelitten. Doch hier war alles, was wir spürten, nur
eine Art Stechen als Reaktion auf die besonders starke Reizung. Man konnte
jetzt natürlich noch keine Schlußfolgerungen ziehen, aber ich vermutete, daß
die intensive Hitze die Nerven unter der Haut empfindungslos gemacht hatte und
man daher keinen Schmerz spürte. Die Passagiere im Zug, deren Brandwunden
schmerzten, hatten sich alle die Verbrennungen durch Feuer geholt und nicht
durch die direkte Hitze der Bombe. (Später erfuhr ich, daß es auch Leute mit
stark schmerzenden Brandwunden gab, die von der Bombe herrührten.)
    Neben mir sagte plötzlich einer: „Verzeihung!“
und mußte sich zum Fenster hinaus übergeben. Dann, als er fühlte, daß es sich
wiederholen würde, ging er hinaus auf die Plattform des Wagens. Inzwischen
hatten sich dort draußen bereits die meisten der Passagiere, die an Durchfall
litten, versammelt. Offensichtlich ging es den Leuten, die schon früher aus den
Fenstern geklettert waren, ähnlich. Ich selbst fühlte auch ein wenig diese
Beschwerden, aber meine Anfälle schienen nur alle drei Stunden einmal zu
kommen. Der Mann mit den tiefliegenden Augen sagte, er habe auch diese
zeitweiligen Durchfälle. Meine Frau und meine Nichte hatten überhaupt keine
derartigen Symptome. Ich führte das auf eine plötzliche Ruhrepidemie zurück,
aber der Mann meinte, es müsse eine Nebenwirkung der Bombe sein. Wenn Menschen
oder Tiere, so erklärte er, zuviel getrunken oder gegessen hatten, oder wenn sie
etwas nicht Bekömmliches zu sich genommen hatten, stieß der Organismus diese
Fremdkörper mit Hilfe solcher physiologischer Reaktionen wie Erbrechen oder
Durchfall wieder aus. Das gleiche geschah, wenn der Organismus zu erschöpft
war, um richtig zu verdauen. Viele von denen, die Opfer der Bombe wurden,
litten an Durchfall, obwohl ihr Zustand zu keiner der beschriebenen Reaktionen
paßte. Deshalb war er der Meinung, daß irgendeine für den Organismus schädliche
Substanz durch die Haut eingedrungen war und die Funktion der verschiedenen
Organe beeinträchtigte, was zu der Verdauungsstörung führte. Die Säfte im Magen
und in den Därmen würden diese Substanz zusammen mit der halbverdauten Nahrung
wieder ausscheiden. „Sie sehen also“, erklärte der Mann mit den tiefliegenden
Augen, „die Organe des menschlichen Körpers reagieren offensichtlich wie ein
gut funktionierender Mechanismus. Wenn man einmal Durchfall hat, sollte man dem
auch nachgeben. Wenn man versucht, es zurückzuhalten, gerät der Mechanismus nur
unnötig durcheinander.“
    Ein Junge, der sich gesetzt hatte, überließ
seinen Platz einer alten Frau, die neben dem Mann mit den tiefliegenden Augen
stand. Er mochte das dritte oder vierte Jahr auf der Mittelschule sein. Die
alte Frau redete auf den Jungen ein, vermutlich aus Dankbarkeit oder auch aus
Neugierde, der aber hatte keine Lust, sich zu unterhalten. Sie versuchte, ihn
zum Sprechen zu bringen, er sollte berichten, was ihm zugestoßen war, als die
Bombe fiel. Sie schien mir ein bißchen zu aufdringlich. Dann plötzlich erzählte
der Junge mit allen Anzeichen des Widerwillens seine Geschichte. Er war zu
Hause gewesen, als der Feuerball explodierte. Es hatte plötzlich geblitzt und
mächtig gedonnert, und er hatte hinauslaufen wollen. In dem Moment war das Haus
zusammengestürzt, und er hatte das Bewußtsein verloren. Als er wieder zu sich
kam, fand er sich zwischen Balken und Brettern eingekeilt, und sein Vater
versuchte, ihn zu befreien. Er benutzte ein Rundholz als Hebel, um die Balken
hochzustemmen, die das Bein des Jungen festklemmten, und er redete ihm die
ganze Zeit zu, tapfer zu sein. Die Flammen kamen immer näher, und die Trümmer
ihres Hauses hatten bereits Feuer gefangen. „Los, zieh den Fuß raus, Junge“,
sagte sein Vater. Aber der Knöchel steckte fest zwischen den Balken. Jetzt
schloß das Feuer sie schon von drei Seiten ein. Sein Vater blickte sich um und
sagte: „Es ist sinnlos. Du darfst nicht schlecht von mir denken — aber ich
mache, daß ich fortkomme. Du denkst doch nicht schlecht von mir, mein Junge?“
Und damit schleuderte er den Stamm zur Seite und ergriff die Flucht. Der

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