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Schwarzer Regen

Schwarzer Regen

Titel: Schwarzer Regen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Masuji Ibuse
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Junge
rief: „Papa, hilf mir!“, aber sein Vater hatte nur noch einmal zurückgeblickt,
ehe er ihm aus den Augen verschwand. Voller Verzweiflung sank der Junge zurück
zwischen die Balken — und ganz plötzlich spürte er den Druck am Knöchel nicht
mehr, er war frei und konnte zwischen den Balken hervorkriechen. Sein Bein
hatte sich aus dem Holzgewirr befreit wie bei einem chinesischen Puzzlespiel,
das unmöglich zu entwirren scheint, bis man die Lösung auf einmal zufällig
gefunden hat. Er lief eine Straße entlang, die durch eine Lücke im Feuer
führte, und dann die ganze Strecke bis nach Mitaki-machi zu dem Haus einer
Tante, wo er seinen Vater vorfand. Vater und Sohn begegneten sich mit recht
gemischten Gefühlen; keiner, nicht einmal die Tante, brachte ein Wort über die
Lippen. Dem Vater sah man deutlich an, wie unbehaglich er sich fühlte. Der
Junge war daraufhin dieser Situation entflohen und in den Zug nach Kabe
gestiegen, zur Familie seiner verstorbenen Mutter wollte er.
    Als er seine Geschichte beendet hatte, legte er
die Stirn in Falten und preßte die Lippen fest zusammen. Die alte Frau saß
kerzengerade da, mit gesenktem Kopf, und sagte nichts mehr, fast so, als sei
sie getadelt worden. Sie war eine vornehm aussehende alte Dame von etwa sechzig
Jahren mit einem Baumwolltuch um die Stirn.
    Auf einem Platz am Fenster, von wo aus man die
Straße sehen konnte, saßen eine etwa dreißigjährige Frau und ein Mann von
ungefähr fünfzig. Die Frau hatte ein weißes Hemd an, mit kleinen blauen Kreuzen
gemustert, und weite Hosen aus steifem gelbem Stoff, wie es ihn im Kriege gab.
Sie hatte ein rundliches Gesicht und recht hübsche Augen. Der Mann trug ein
Leinenhemd mit einem Familienwappen, das offensichtlich aus einem Kimono seines
Urgroßvaters genäht war, dazu weite Hosen aus dem gleichen Material und
Gummistiefel. Beide schienen aus Familien zu stammen, die alte Kleidungsstücke
sorgfältig aufbewahrten, auch wenn sie nicht mehr Mode waren.
    „Nanu, ist das nicht der kleine Yukio?“ sagte
der Mann im Hemd mit dem Wappen zu der Frau. Die Frau blickte hinaus und rief
nach einem Kind, einem Jungen von acht oder neun, der auf der Chaussee ging.
„Yukio! He, Yukio! Wohin willst du? Warum fährst du nicht mit dem Zug? Warum
steigst du hier nicht ein?“ Der Junge blieb stehen und sah zu ihnen hinüber,
stolperte dann aber weiter, ohne auch nur zu nicken oder den Kopf zu schütteln.
Auf dem Löscheimer, den er trug, konnte ich lesen „Trupp 3, Nakashiro-machi“.
Wahrscheinlich hatte er den Eimer an sich gerissen, als die Bombe fiel, ohne zu
wissen, was er eigentlich tat, und ihn seither nicht aus den Händen gelassen.
    „Yukio! Hallo! Dieser Zug hier geht nach Kabe,
Yukio! Was ist denn los mit dir?“ Die Frau hing aus dem Fenster und rief zu ihm
hinüber, erhielt aber keine Antwort.
    „Der ist fort“, sagte der Mann in dem
Leinenhemd. „Komisch, und warum er so einen Eimer trägt?“
    Überall im Wagen begann man sich jetzt zu
unterhalten, aber ich konnte besonders deutlich verstehen, was der Mann im
Leinenhemd sagte. Er beschwerte sich über die Abteilung für Verteidigung in der
Stadtverwaltung, die im Zusammenhang mit dem Bombenabwurf ihre Pflichten
vernachlässigt hatte. Die Beamten der Abteilung hatten es sogar unterlassen,
nach dem Angriff an den Divisionsstab Bericht zu erstatten, meinte er.
     
    („Die Wahrheit über die Atombombe“, eine Arbeit
von Shigeteru Shibata, die anläßlich des zehnten Jahrestages des Bombenabwurfs
veröffentlicht wurde, sagt etwas ganz anderes:
    „Am Nachmittag des Tages, an dem die Bombe gefallen
war, schien es Herrn Noda, dem Leiter der Abteilung für Verteidigung,
notwendig, gemäß den Festlegungen für unvorhergesehene Kriegsereignisse den
Stab der 5. Division über das Ausmaß der Zerstörung im Rathaus und in dessen
Umgebung zu benachrichtigen, und er schickte eine offizielle Mitteilung. Zu dem
Zeitpunkt hatte er natürlich noch keine Ahnung, daß die ganze Stadt zerstört
war. Nach einer Weile kam die Mitteilung wieder zurück. ,Es gibt keinen Divisionsstab mehr“, berichtete der Bote. ,Was wollen Sie damit sagen — keinen Divisionsstab mehr?“ — , Na
nur — er ist nicht mehr da.“ — , Was ist denn damit
geschehen?“ — , Ich weiß nicht.“ Der Bote fügte noch
hinzu, daß der Graben rund um den Stab — er hatte seinen Sitz in der Nähe des
Schloßturmes, und in der Feudalzeit war das der innere Schloßgraben — voller
verkohlter Leichen

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