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Schwarzer Schmetterling

Schwarzer Schmetterling

Titel: Schwarzer Schmetterling Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernard Minier
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wurde allmählich dunkel. Der Himmel war mittlerweile voller dunkler, bedrohlicher Wolken, und über den Bergen hielt sich nur noch ein schmales rosa-orangefarbenes Band.
    Wie beim letzten Mal erwartete ihn die Witwe Grimm an der Tür ihres blaugestrichenen Holzhauses, eine Zigarette in der Hand. Mit einer Miene, die äußerste Gleichgültigkeit zum Ausdruck brachte. Sie trat zur Seite, um ihn durchzulassen.
    »Am Ende des Ganges, die Tür rechts. Ich habe nichts angerührt.«
    Servaz ging durch einen Flur, der vollgestopft war mit Möbeln, Gemälden, Stühlen, Nippsachen und auch ausgestopften Tieren, die ihn anzustarren schienen. Er stieß die letzte Tür hinter einem Bücherregal auf. Die Fensterläden waren geschlossen, das Zimmer lag im Halbdunkel. Es roch muffig. Servaz öffnete das Fenster. Ein kleines, etwa neun Quadratmeter großes Büro, das auf den Wald hinter dem Haus ging. Unbeschreibliche Unordnung. Nur mit Mühe konnte er sich einen Weg in die Mitte des Zimmers bahnen. Ganz offensichtlich hatte Grimm, wenn er zu Hause war, die meiste Zeit in seinem Büro verbracht. Auf einem Möbel stand sogar ein kleiner Fernseher – davor ein zerschlissenes altes Sofa voller Ordner, Aktenmappen sowie Angler- und Jagdzeitschriften, außerdem eine tragbare Stereoanlage und ein Mikrowellenofen.
    Einige Sekunden lang blieb er in der Mitte des Zimmers stehen und ließ sprachlos den Blick über das Chaos aus Kartons, Möbeln, Aktenordnern und verstaubten Gegenständen schweifen.
    Ein Bau, eine Höhle …
    Eine
Nische.
    Servaz erschauerte. Grimm lebte wie ein Hund neben seiner eiskalten Frau.
    An den Wänden hingen Postkarten, ein Kalender, Poster, die Gebirgsseen und Flüsse zeigten. Auf den Schränken standen weitere ausgestopfte Tiere: ein Eichhörnchen, mehrere Eulen, eine Stockente und sogar eine Wildkatze. In einer Ecke entdeckte er ein Paar hohe Schuhe. Auf einem der Möbel mehrere Angelrollen. Ein Naturliebhaber? Ein Amateur-Tierpräparator? Servaz versuchte, sich in den korpulenten Mann hineinzuversetzen, der sich in dieses Zimmer einsperrte, mit diesem Bestiarium als einziger Gesellschaft, dessen Glasaugen das Halbdunkel mit starren Blicken durchlöcherten. Er malte sich aus, wie er sich vor dem Fernseher den Wanst mit aufgewärmten Gerichten vollschlug, ehe er auf seinem Sofa einschlief. Von dem weiblichen Drachen, den er vor dreißig Jahren geheiratet hatte, in den hintersten Winkel des Flurs verbannt. Er zog die Schubladen auf. Systematisch. In der ersten fand er Kugelschreiber, Rechnungen, Medikamentenlisten, Kontoauszüge, Kreditkartenbelege. In der zweiten ein Fernglas, noch originalverpackte Packen Spielkarten, mehrere Landkarten.
    Dann stießen seine Finger auf etwas, das tief hinten in der Schublade lag: Schlüssel. Er zog sie heraus. Ein Schlüsselbund. Ein großer Schlüssel, passend zu einem Türschloss, und zwei kleinere Schlüssel für Vorhänge- oder Riegelschlösser. Servaz steckte sie in die Tasche. In der dritten Schublade eine Sammlung von Fliegen, Angelhaken, Schnur – und ein Foto.
    Servaz hielt es ans Fenster.
    Grimm, Chaperon – und zwei weitere Personen.
    Das Foto war recht alt: Grimm war fast schlank – und Chaperon war fünfzehn Jahre jünger. Die vier Männer hockten auf Felsen um ein Lagerfeuer herum, und sie lächelten ins Objektiv. Links hinter ihnen war eine Lichtung, die von einem Wald aus hohen Nadelbäumen und herbstlich gefärbten Laubbäumen gesäumt wurde; eine sanft abfallende Wiese, ein See und Berge rechts auf dem Foto. Es war später Nachmittag: Lange Schatten erstreckten sich von den hohen Bäumen Richtung See. Der Rauch des Lagerfeuers stieg spiralförmig ins Abendlicht auf. Auf der linken Seite fielen Servaz zwei Zelte auf.
    Eine bukolische Atmosphäre.
    Der Eindruck von schlichtem Glück und Brüderlichkeit. Männer, denen es Spaß macht, gemeinsam im Gebirge zu biwakieren, ein letztes Mal vor dem Winter.
    Mit einem Mal verstand Servaz, wie Grimm dieses zurückgezogene Leben neben einer Frau ertragen konnte, die ihn verachtete und demütigte: dank dieser Momente der Flucht in die Natur in Gesellschaft seiner Freunde. Er begriff, dass er sich geirrt hatte. Dieses Zimmer war kein Gefängnis, keine Nische: Es war, im Gegenteil, ein nach außen hin offener Tunnel. Die ausgestopften Tiere, die Poster, die Angelgeräte, die Zeitschriften: All das stand in Verbindung mit jenen Momenten absoluter Freiheit, die den Dreh- und Angelpunkt seiner Existenz ausmachen

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