162 @lematin.fr an
[email protected], 17 : 12 : 44 :
[Was willst du wissen?]
Espérandieu musste lächeln und tippte hochkonzentriert folgende Nachricht:
[Ob es Leichen im Keller gibt, vertuschte Skandale, Prozesse, die in Frankreich oder im Ausland gegen den Lombard-Konzern anhängig sind. Ob Gerüchte über ihn kursieren. Die geringste üble Nachrede.]
Von kleim 162 @lematin.fr an
[email protected], 17 : 25 : 06 :
[Und nichts weiter? Kannst du dich in msn einloggen?]
Der Schatten des Berges hatte sich über das Tal gelegt, und Servaz hatte die Scheinwerfer eingeschaltet. Die Straße war leer. Zu dieser Jahreszeit fuhr niemand in diesem Tal spazieren, zumal die Straße am Talende aufhörte. Die etwa zwanzig Hütten und Häuser an dem zwölf Kilometer langen Fluss waren Zweitwohnungen, deren Fensterläden höchstens von Mai bis September und – seltener – an Weihnachten geöffnet wurden. Jetzt am Abend waren sie nur noch flache Schatten am Straßenrand, die fast mit der riesigen schwarzen Masse des Gebirges verschmolzen.
Plötzlich, nach einer langen Kurve, erblickte Servaz im Licht seiner Scheinwerfer den Anfang des Pfads, den ihm die Witwe beschrieben hatte. Er bremste ab und steuerte seinen Jeep in den Forstweg hinein. Auf dem holprigen Weg wurde der Wagen so kräftig durchgerüttelt, dass er sich am Lenkrad festklammerte, obwohl er nur mit fünfzehn Stundenkilometern fuhr. Es war dunkel geworden, und die schwarzen Bäume zeichneten sich gegen einen Himmel ab, der selbst kaum heller war. Er legte noch einige hundert Meter zurück, bis die Hütte in Sicht kam.
Servaz stellte den Motor ab, ließ die Scheinwerfer an und stieg aus. Das Rauschen des nahen Flusses erfüllte die Dunkelheit. Er sah sich um, aber im Umkreis von etlichen Kilometern gab es nicht das kleinste Licht.
Im Feuer der Scheinwerfer, die die Bäume in Glut tauchten und seinen eigenen Schatten vor ihm hergehen ließen wie einen Riesen der Finsternis, marschierte er zur Hütte. Dann stieg er die Stufen zur Veranda hinauf und zog den Schlüsselbund. Es gab drei Schlösser – der größte Schlüssel passte zum mittleren Schloss, die kleineren zu den beiden anderen darüber und darunter. Nach einigem Hin und Her hatte er sie alle geöffnet. Er drückte gegen die Tür, die Widerstand leistete, ehe sie quietschend nachgab. Servaz suchte tastend nach dem Lichtschalter. Er fand ihn links. Er legte ihn um, und die Deckenlampe sprang an und erhellte den Raum.
Einige Sekunden lang verharrte er reglos in der Tür, gelähmt durch das, was er sah.
Das Innere der Hütte beschränkte sich auf eine Theke rechter Hand – vielleicht mit einer Kochnische dahinter –, eine Schlafcouch an der Rückwand, einen Holztisch und zwei Stühle direkt davor. An der linken Wand hing ein Regencape aus wasserundurchlässigem schwarzem Stoff.
Er hatte sich dem Kern genähert …
Espérandieu öffnete seinen Instant-Messenger. Er wartete drei Minuten, ehe im rechten unteren Eck seines Bildschirms eine Nachricht auftauchte, dazu ein Zeichentrickhund, der eine Spur verfolgte:
kleim 162 hat sich soeben eingeloggt
Drei Sekunden später öffnete sich ein Dialogfenster mit dem gleichen Icon.
kleim 162 sagt:
weshalb interessierst du dich für Eric Lombard?
vince.esp sagt:
tut mir leid, kann im Moment nicht darüber sprechen.
kleim 162 sagt:
ich hab ein wenig herumgeschnüffelt, bevor ich mich eingeloggt habe. Sein Pferd wurde getötet. Das haben mehrere Zeitungen gemeldet. Besteht da ein Zusammenhang?
vince.esp sagt:
no comment.
kleim 162 sagt:
vince, du arbeitest bei der Mordkommission. Sag mir nicht, dass man euch mit Ermittlungen über den Tod eines Pferdes betraut hat!!!
vince.esp sagt:
kannst du mir helfen oder nicht???
kleim 162 sagt:
was hab ich davon?
vince.esp sagt:
die Zuneigung eines Freundes.
kleim 162 sagt:
heben wir uns die Zärtlichkeiten für ein anderes Mal auf. Und sonst noch?
vince.esp sagt:
du bist der Erste, der von den Ermittlungsergebnissen erfährt.
kleim 162 sagt:
es gab also Ermittlungen. Ist das alles?
vince.esp sagt:
wenn sich eine größere Sache dahinter verbirgt, wirst du es als Erstes erfahren.
kleim 162 sagt:
okay, ich recherchiere.
Lächelnd schloss Espérandieu seinen Messenger.
»Kleim 162 « war das virtuelle Pseudonym eines investigativen Journalisten, der als freier Mitarbeiter für mehrere