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Schwarzer Schmetterling

Schwarzer Schmetterling

Titel: Schwarzer Schmetterling Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernard Minier
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dafür?«
    »Der Mord an Grimm scheint ein Racheakt zu sein, und irgendetwas oder irgendjemand hat die Jugendlichen dazu bewogen, sich das Leben zu nehmen. Und dann ist da die Anzeige wegen dieser sexuellen Erpressungsgeschichte, die vor einigen Jahren gegen Grimm, Perrault und Chaperon erstattet wurde … Wenn man diese Puzzleteile zusammenfügt, welches Bild ergibt sich dann?«
    Servaz spürte plötzlich, wie ihn ein elektrischer Schlag durchzuckte:
Sie hatten etwas.
Es war da, in Reichweite. Der finstre Kern der Geschichte, die kritische Masse – von der alles ausging. Irgendwo, versteckt in einem toten Winkel … Er spürte, wie das Adrenalin durch seine Venen schoss.
    »Ich schlage vor, wir schauen uns erst mal an, was in diesem Karton ist«, sagte er mit leicht zitternder Stimme.
    »Legen wir los?«, fragte sie – aber eigentlich war es gar keine richtige Frage.
    Er las in ihrem Gesicht die gleiche Hoffnung und die gleiche Aufregung. Servaz sah auf die Uhr, es war fast ein Uhr morgens. Hinter den Jalousien schneite es noch immer.
    »Okay. Das Blut …«, fragte er in einem plötzlichen Themawechsel. »Wo genau wurde es gefunden?«
    Sie warf ihm einen bestürzten Blick zu.
    »Auf der Brücke, in der Nähe der Stelle, wo der Apotheker aufgehängt wurde.«
    Eine Weile sagte keiner von ihnen ein Wort.
    »Blut«, wiederholte er. »Das kann nicht sein!«
    »Das Labor ist sich ganz sicher.«
    »Blut … Als ob …«
    »Als ob sich Hirtmann verletzt hätte, als er den Körper von Grimm aufhängte …«
     
    Jetzt nahm Irène Ziegler die Dinge in die Hand. Sie stöberte in dem Karton voller Aktenmappen, Ordner, Stenoblocks und administrativer Briefe herum, bis sie eine Aktenmappe mit der Aufschrift »Zusammenfassung« ausgrub. Ganz offenbar hatte Saint-Cyr sie selbst verfasst; der Richter hatte eine klare, feine und schwungvolle Handschrift – das genaue Gegenteil einer krakeligen Arztklaue. Servaz stellte fest, dass er die verschiedenen Phasen des Ermittlungsverfahrens mit einer bemerkenswerten Klarheit und Prägnanz resümiert hatte. Anschließend benutzte Ziegler diese Zusammenfassung, um sich in dem Durcheinander des Kartons zurechtzufinden. Sie begann damit, die einzelnen Bestandteile der Akte herauszunehmen und sie zu kleinen Haufen zu schichten: die Obduktionsberichte, die Vernehmungsprotokolle, die Befragungen der Eltern, die Liste der Beweisstücke, die Briefe, die bei den Jugendlichen zu Hause gefunden wurden … Saint-Cyr hatte für seinen persönlichen Gebrauch Fotokopien von sämtlichen Unterlagen in der Ermittlungsakte angefertigt. Neben den Fotokopien fanden sich:
    Zeitungsausschnitte,
    Haftnotizen,
    lose Blätter,
    Landkarten, auf denen mit einem Kreuz die Stelle, an der sich jeder Jugendliche umgebracht hatte, markiert war; außerdem waren rätselhafte Routen aus Pfeilen und roten Kreisen eingezeichnet,
    Schulzeugnisse,
    Klassenfotos,
    beschriebene Notizzettel,
    Mauttickets …
    Servaz war sprachlos. Der alte Richter hatte diese Geschichte offensichtlich zu seiner persönlichen Angelegenheit gemacht. Wie anderen Ermittlern zuvor hatte auch ihm diese rätselhafte Serie von Selbsttötungen keine Ruhe gelassen. Hatte er wirklich gehofft, er könnte den wahren Sachverhalt der Geschichte nach seiner Pensionierung aufklären, wenn er seine ganze Zeit darauf verwenden könnte? Dann fanden sie ein noch bedrückenderes Dokument: die Liste der sieben Opfer mit ihren Fotos und den Daten ihres Selbstmords.
     
    2 . Mai 1993 : Alice Ferrand, 16  Jahre
    7 . Juni 1993 : Michaël Lehmann, 17  Jahre
    29 . Juni 1993 : Ludovic Asselin, 16  Jahre
    5 . September 1993 : Marion Dutilleul, 15  Jahre
    24 . Dezember 1993 : Séverine Guérin, 18  Jahre
    16 . April 1994 : Damien Llaume, 16  Jahre
    9 . Juli 1994 : Florian Vanloot, 17  Jahre
     
    »Mein Gott!«
    Seine Hand zitterte, als er sie auf dem Schreibtisch im Schein der Lampe ausbreitete: sieben Fotos, angeheftet an sieben kleine Karteikarten, die ihm Ziegler hinhielt. Sieben lächelnde Gesichter. Die einen sahen ins Objektiv; die anderen wandten den Blick ab. Er betrachtete seine Kollegin. Sie stand neben ihm wie vom Blitz getroffen. Dann richteten sich Servaz’ Augen wieder auf die Gesichter. Vor Erschütterung schnürte sich ihm die Kehle zu.
    Ziegler hielt ihm die eine Hälfte der Obduktionsberichte hin und vertiefte sich in die andere Hälfte. Eine Zeitlang lasen sie schweigend. Die Berichte gelangten zu dem wenig überraschenden Ergebnis,

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