Schwarzer Schmetterling
die Malediven …
»Es wundert mich, dass sich die Polizei noch immer für diese Geschichte interessiert.«
»Eigentlich ermittle ich im Mordfall des Apothekers Grimm.«
Ferrand drehte sich um. Servaz las die Verwunderung in seinem Blick.
»Und Sie glauben, dass ein Zusammenhang zwischen Grimms Tod und dem Selbstmord meiner Tochter oder der anderen unglücklichen jungen Leute besteht?«
»Das versuche ich herauszufinden.«
Gaspard Ferrand musterte ihn eingehend.
»Ich kann da keinen Zusammenhang erkennen. Wie kommen Sie auf diese Idee?«
Er lässt sich nicht für dumm verkaufen. Servaz zögerte mit der Antwort. Gaspard Ferrand bemerkte seine Verlegenheit – und wurde sich auch der Tatsache bewusst, dass sie sich in einem engen Flur Auge in Auge gegenüberstanden, er mit nacktem Oberkörper, sein Besucher winterlich eingemummt. Er deutete auf die offene Tür zum Wohnzimmer.
»Tee, Kaffee?«
»Kaffee, wenn es Ihnen keine Mühe macht.«
»Überhaupt nicht. Ich werde mir einen Tee bereiten. Nehmen Sie doch bitte Platz. Ich bin gleich wieder zurück!«, rief er und verschwand schon in der Küche, auf der anderen Seite des Flurs. »Machen Sie es sich bequem!«
Servaz hatte nicht mit einem so herzlichen Empfang gerechnet. Offenbar empfing der Vater von Alice gern Gäste – und selbst einen Polizisten, der ihm Fragen über seine Tochter stellen wollte, die sich vor fünfzehn Jahren das Leben genommen hatte. Servaz ließ den Blick durch das Zimmer schweifen. Im Wohnzimmer herrschte große Unordnung. Wie in der Wohnung von Servaz lagen fast überall kleine Stapel von Büchern und Zeitschriften herum: auf dem Couchtisch, auf den Sesseln, auf den Möbeln. Und Staub … Ein alleinstehender Mann? War Gaspard Ferrand verwitwet oder geschieden? Das hätte erklärt, wieso er einen unangemeldeten Besucher so bereitwillig empfing. Ein Brief von der »Hungerhilfe« lag auf einem Möbel; Servaz erkannte das blaue Logo und das graue Recyclingpapier: Er selbst war Mitglied und Spender dieser Nichtregierungsorganisation. In einem Bilderrahmen waren mehrere Fotos von Alices Vater zu sehen, die ihn in Gesellschaft von Leuten zeigten, die aussahen wie südamerikanische und asiatische Bauern, aufgenommen vor einer Kulisse aus Dschungeln oder Reisfeldern. Servaz ahnte, dass die Reisen von Gaspard Ferrand nicht allein dem Zweck dienten, sich am Strand einer Antilleninsel in die Sonne zu legen, zu tauchen und Daiquiris zu trinken.
Er ließ sich auf das Sofa fallen. Gleich neben ihm waren auf einem hübschen Elefantenfußhocker aus dunklem Holz weitere Bücher aufgestapelt. Servaz erinnerte sich an den afrikanischen Namen dieses Stuhls:
esono dwa
…
Kaffeeduft strömte aus dem Flur herein. Ferrand tauchte mit einem Tablett mit zwei dampfenden Bechern, einer Zuckerdose, einer Zuckerzange sowie einem Fotoalbum wieder auf. Nachdem er das Tablett auf den Couchtisch gestellt hatte, reichte er Servaz das Album.
»Da, für Sie!«
Servaz schlug es auf. Wie erwartet, enthielt es Fotos von Alice: die vierjährige Alice in einem Tretauto; Alice beim Blumengießen mit einer Kanne, die fast so groß war wie sie; Alice mit ihrer Mutter, einer schlanken, versonnenen Frau mit einer großen Nase à la Virginia Woolf; die zehnjährige Alice, die in kurzen Hosen mit gleichaltrigen Jungs Fußball spielte und mit dem Ball am Fuß unbeirrbar und entschlossen auf das gegnerische Tor zustürmte … An ihr war wirklich ein Junge verlorengegangen. Aber zugleich war sie ein bezauberndes, strahlendes Mädchen. Gaspard Ferrand setzte sich neben ihn aufs Sofa. Er hatte ein zur Hose passendes Hemd mit Mao-Kragen übergestreift.
»Alice war ein wunderbares Kind. Sehr gut zu haben, immer heiter, immer hilfsbereit. Sie war unser Sonnenschein.«
Ferrand lachte noch immer, als wäre die Erinnerung an Alice für ihn angenehm und nicht schmerzlich.
»Sie war auch ein sehr intelligentes Kind und vielseitig begabt: für Zeichnen, Musik, Sprachen, Sport, Schreiben … Sie verschlang förmlich Bücher. Schon mit zwölf Jahren wusste sie, was sie später einmal werden wollte: Milliardärin, um anschließend ihr Geld an die zu verteilen, die es am dringendsten brauchten.«
Gaspard Ferrand brach in ein bizarres, künstliches Lachen aus.
»Wir haben nie verstanden, weshalb sie das getan hat.«
Dieses Mal spürte man den Knacks, den er davongetragen hatte. Aber Ferrand fing sich wieder.
»Warum nimmt man uns das Beste und Teuerste, das wir haben, und lässt uns
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