Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schwarzer Schmetterling

Schwarzer Schmetterling

Titel: Schwarzer Schmetterling Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernard Minier
Vom Netzwerk:
gehört. Sie hatte eine Reise zu einem Ort unternommen, an dem Wahnsinn und Tod herrschten. Doch anders, als sie erwartet hatte, war beides hier nicht unter Kontrolle: Unerklärlicherweise war es ihnen gelungen, aus ihrer Büchse zu entweichen. Hier war etwas Unheimliches im Gange, und – ob es ihr gefiel oder nicht – sie war durch ihre Ankunft in der Klinik in diese Sache mit hineingezogen worden …

18
    D er Schnee fiel immer dichter, und er begann liegen zu bleiben, als Servaz vor der Gendarmerie parkte. Der Wachhabende am Empfang döste vor sich hin. Das Eisengitter war heruntergelassen worden, und er musste es für Servaz hochziehen. Den schweren Karton in den Armen, steuerte der Polizist auf das Besprechungszimmer zu. Die Gänge waren verwaist und still. Es war kurz vor Mitternacht.
    »Hier lang«, sagte eine Stimme, als er an einer offenen Tür vorbeiging.
    Er blieb unvermittelt stehen und warf einen Blick durch die offene Tür. Irène Ziegler hatte sich in einem kleinen Büro niedergelassen, das in Dämmerlicht gehüllt war. Nur eine einzige Lampe brannte. Durch die Jalousien sah er Flocken, die im Licht einer Straßenlaterne umherwirbelten. Ziegler gähnte und streckte sich. Er ahnte, dass sie eingenickt war, während sie auf ihn wartete. Sie betrachtete den Karton. Dann lächelte sie ihn an. Zu dieser vorgerückten Stunde fand er ihr Lächeln mit einem Mal bezaubernd.
    »Was ist das?«
    »Ein Karton.«
    »Das sehe ich. Und was ist drin?«
    »Alles über die Selbstmörder.«
    Ihre grünen Augen funkelten kurz vor Erstaunen und Interesse.
    »Haben Sie das von Saint-Cyr?«
    »Kaffee?«, fragte er, während er den schweren Karton auf den nächsten Schreibtisch stellte.
    »Ohne Milch, mit Zucker. Danke.«
    Er verließ das Zimmer und ging bis zu dem Automaten am Ende des Gangs, dann kehrte er mit zwei Styroporbechern zurück.
    »Für dich!«, sagte er.
    Sie sah ihn überrascht an.
    »Vielleicht wäre es an der Zeit, dass wir uns duzen, was meinst du?«, entschuldigte er sich und dachte daran, wie unbefangen ihn der Richter sofort geduzt hatte. Wieso, verdammt noch mal, brachte er das nicht hin? War es die späte Stunde oder ihr überraschendes Lächeln, das ihn dazu bewogen hatte, sich unverwandt ein Herz zu fassen?
    Er sah Ziegler abermals lächeln.
    »Einverstanden. Also dieses Abendessen scheint ja aufschlussreich gewesen zu sein.«
    »Du zuerst.«
    »Nein, du.«
    Er setzte sich knapp auf die Kante des Schreibtischs und sah auf dem Bildschirm ein Solitär-Spiel. Dann legte er los. Ziegler hörte ihm aufmerksam zu, ohne ihn ein einziges Mal zu unterbrechen.
    »Das ist ja unglaublich!«, sagte sie, als er fertig war.
    »Was mich wundert, ist, dass du nichts davon gehört hast.«
    Sie runzelte die Stirn und blinzelte.
    »Vage sagt mir das schon etwas. Vielleicht von ein paar Zeitungsartikeln. Oder von Gesprächen bei Tisch zwischen meinen Eltern. Schließlich war ich damals noch nicht bei der Gendarmerie. Denk mal, ich war damals ungefähr so alt wie diese Jugendlichen.«
    Ihm wurde auf einmal klar, dass er nichts über sie wusste. Nicht einmal, wo sie wohnte. Und dass sie nichts über ihn wusste. Seit einer Woche drehten sich all ihre Gespräche nur um die Ermittlungsarbeit.
    »Dabei hast du doch ganz in der Nähe gewohnt«, hakte er nach.
    »Meine Eltern haben etwa fünfzehn Kilometer von Saint-Martin entfernt in einem anderen Tal gewohnt. Ich bin hier nicht zur Schule gegangen. Wenn du als Jugendlicher aus einem anderen Tal kamst, war das so, als würdest du aus einer anderen Welt stammen. Für ein Kind sind fünfzehn Kilometer wie tausend für einen Erwachsenen: Jeder Heranwachsende hat sein Revier. Zu dieser Zeit nahm ich den Schulbus zwanzig Kilometer weiter westlich, und ich ging aufs Gymnasium in Lannemezan, vierzig Kilometer von hier. Anschließend habe ich in Pau Jura studiert. Jetzt, wo du es sagst, erinnere ich mich, dass auf dem Schulhof über diese Selbstmorde gesprochen wurde. Ich muss es wohl verdrängt haben.«
    Er spürte, dass sie nur widerstrebend über ihre Jugend sprach, und er fragte sich, wieso.
    »Es wäre interessant, Propp nach seiner Meinung zu fragen«, sagte er.
    »Seine Meinung worüber?«
    »Wieso du dich nicht an diese Ereignisse erinnern kannst.«
    Sie warf ihm einen zweideutigen Blick zu.
    »Gibt es denn eine Verbindung zwischen dieser Geschichte von den jugendlichen Selbstmördern und dem Mord an Grimm?«
    »Vielleicht nicht.«
    »Weshalb interessierst du dich dann

Weitere Kostenlose Bücher