Schwarzer Schmetterling
den Staat billiger.«
Servaz nickte zustimmend.
»Heutzutage zählt jeder Pfennig, den man sparen kann, was?«
»Ein solcher Fall ist mir noch nicht untergekommen«, sagte Ziegler im Aufstehen. »Zuerst ein totes Pferd, dann ein Apotheker, der unter einer Brücke hängt. Und eine einzige Gemeinsamkeit zwischen beiden: die DNA eines Serienmörders … und jetzt Jugendliche, die sich serienweise umbringen. Das ist wie in einem Alptraum. Keine Logik, kein roter Faden. Vielleicht wache ich gleich auf und merke, dass es das alles nie gegeben hat.«
»Es wird ein Erwachen geben«, sagte Servaz mit fester Stimme. »Aber nicht für uns: für den oder die Täter. Und zwar schon bald.«
Er verließ den Raum und entfernte sich mit flotten Schritten.
In dieser Nacht träumte er von seinem Vater. In seinem Traum war Servaz ein Junge von zehn Jahren. Alles war in eine warme, lauschige Sommernacht gehüllt, und sein Vater war nur eine Silhouette, genauso wie die beiden Gestalten, mit denen er vor dem Haus diskutierte. Als er näher kam, erkannte der junge Servaz, dass es sich um zwei hochbetagte Männer handelte, die große weiße Togen trugen. Alle beide hatten einen Vollbart. Servaz schlich sich zwischen sie und hob den Kopf, doch die drei Männer beachteten ihn nicht. Als er die Ohren spitzte, bemerkte der Junge, dass sie lateinisch sprachen. Eine sehr lebhafte, aber friedliche Diskussion. Einmal lachte sein Vater, dann wurde er wieder ernst. Aus dem Haus drang Musik – eine vertraute Musik, die Servaz allerdings nicht sofort wiedererkannte.
Dann erhob sich in der Ferne auf der Straße ein Motorengeräusch in der Nacht, und augenblicklich verstummten die drei Männer.
»Sie kommen«, sagte endlich einer der alten Männer.
Er sprach mit düsterer Stimme. Im Traum begann Servaz zu zittern.
Servaz traf mit zehnminütiger Verspätung in der Gendarmeriekaserne ein. Er hatte eine große Schale schwarzen Kaffee, zwei Zigaretten und eine heiße Dusche gebraucht, um die Müdigkeit zu verjagen, die ihn zu überwältigen drohte. Und er hatte noch immer Halsweh. Irène Ziegler war schon da, sie trug wieder ihre Leder-Titan-Kombi, die etwas von einer modernen Ritterrüstung hatte, und er erinnerte sich, vor der Gendarmeriekaserne ihr Motorrad gesehen zu haben. Sie einigten sich darauf, die Eltern der Jugendlichen, die sich umgebracht hatten, zu besuchen, und teilten die Adressen unter sich auf. Drei für Servaz, vier für Ziegler. Servaz beschloss, mit dem Mädchen zu beginnen, das ganz oben auf der Liste stand: Alice Ferrand. Die Adresse war nicht in Saint-Martin, sondern in einem Nachbarort. Er rechnete damit, eine Familie in bescheidenen Verhältnissen anzutreffen – betagte, gramgebeugte Eltern. Wie groß war seine Verblüffung, als er einem hochgewachsenen Mann gegenüberstand, der noch in den besten Jahren war und ihn lächelnd begrüßte – gekleidet nur in eine Hose aus Naturleinen, die von einer Schnur um die Hüfte gehalten wurde!
Servaz war vor Verblüffung so verdattert, dass er stotterte, als er sich vorstellte und den Anlass seines Besuchs darlegte.
Der Vater von Alice schien sofort misstrauisch zu werden.
»Haben Sie einen Dienstausweis?«
»Bitte sehr.«
Der Mann musterte den Ausweis aufmerksam. Dann entspannte er sich und gab ihm den Ausweis zurück.
»Ich wollte mich vergewissern, dass Sie nicht einer dieser Schreiberlinge sind, die in regelmäßigen Abständen diese Geschichte wieder herauskramen, wenn ihre Auflage gerade mal wieder zu wünschen übriglässt«, entschuldigte er sich. »Treten Sie ein.«
Gaspard Ferrand trat zur Seite, um Servaz durchzulassen. Er war groß und schlank. Dem Polizisten fiel der braungebrannte Oberkörper auf, an dem kein Gramm Fett war, nur ein paar graue Haare sprossen auf der Brust, und die Haut über dem Brustkorb war gegerbt und gespannt wie eine Zeltbahn; nur die braunen Brustwarzen waren die eines alten Mannes. Ferrand bemerkte seinen Blick.
»Entschuldigen Sie bitte meine Aufmachung: Ich war gerade dabei, ein bisschen Yoga zu machen. Nach dem Tod von Alice hat mir Yoga – und auch der Buddhismus – sehr geholfen.«
Servaz war zunächst verblüfft, dann fiel ihm ein, dass der Vater von Alice nicht, wie die anderen Eltern, Angestellter oder Arbeiter gewesen war, sondern Französischlehrer. Er stellte sich sogleich einen Mann vor, der eine Menge Ferien hatte und sie an exotischen Urlaubszielen verbrachte: Bali, Phuket, die Karibik, Rio de Janeiro und
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