Schwarzer Schmetterling
der Tod sei stets durch Erhängen erfolgt, bis auf ein Opfer, das sich von einem Berg hinuntergestürzt habe, und den unbeaufsichtigten Jungen, der sich in seiner Badewanne einen tödlichen Stromschlag beibrachte. Die Rechtsmediziner hatten nichts Ungewöhnliches oder Erklärungsbedürftiges festgestellt: Die »Tatorte« waren klar; alles sprach dafür, dass die Jugendlichen allein an den Ort ihres Todes gekommen waren und dass ihnen niemand geholfen hatte. Vier der Obduktionen waren von Delmas und einem anderen Rechtsmediziner, den Servaz kannte und der genauso kompetent war, durchgeführt worden. Nach den Leichenschauen war im Umfeld der Opfer ermittelt worden. Persönlichkeitsprofile waren erstellt worden, und zwar unabhängig von den Aussagen ihrer Eltern. Wie immer gab es in dem ganzen Tratsch einige niederträchtige oder gehässige Gerüchte, aber insgesamt vermittelten die Aussagen das Bild von gewöhnlichen Jugendlichen, abgesehen von einem auffälligen Jungen, Ludovic Asselin, der für seine Aggressivität gegen Kameraden und sein aufsässiges Verhalten gegenüber Autoritätspersonen bekannt war. Die ergreifendsten Aussagen bezogen sich auf Alice Ferrand, das erste Opfer, das bei allen beliebt war und einmütig als ein überaus sympathisches Mädchen geschildert wurde. Servaz betrachtete das Foto: Sie hatte strohblondes lockiges Haar und porzellanweiße Haut und starrte mit ihren schönen, ernsten Augen in die Kamera. Ein sehr hübsches Gesicht, bei dem man den Eindruck hatte, dass jedes Detail von einem Miniaturmaler präzise gestaltet worden war. Das Gesicht war das eines schönen jungen Mädchens von sechzehn Jahren – aber der Blick war der einer sehr viel Älteren. Es lag Intelligenz darin.
Aber noch etwas anderes …
Oder bildete er sich das nur ein?
Gegen drei Uhr früh waren sie ziemlich erschöpft. Servaz beschloss, sich ein wenig Ruhe zu gönnen. Er ging zur Toilette, wo er sein Gesicht unter kaltes Wasser hielt. Dann richtete er sich wieder auf und betrachtete sich im Spiegel; eine der Neonröhren blinkte knisternd und warf ein unheimliches Licht auf die Reihe der Türen hinter ihm. Servaz hatte bei Saint-Cyr zu viel gegessen und getrunken, er war erschlagen, und das sah man ihm an. Er ging sich erleichtern, wusch sich die Hände und trocknete sie unter dem Gebläse. Auf dem Rückweg blieb er vor dem Getränkeautomaten stehen.
»Kaffee?«, rief er in den menschenleeren Gang hinein.
Seine Stimme hallte in der Stille wider. Durch die offene Tür am anderen Ende des Gangs kam die Antwort:
»Ohne Milch! Mit Zucker! Danke!«
Er fragte sich, ob sich außer ihnen und dem Wachhabenden am Eingang sonst noch jemand in dem Gebäude aufhielt. Er wusste, dass die Gendarmen in einem anderen Flügel wohnten. Den Becher in der Hand, schlängelte er sich in der ins Dunkel getauchten Cafeteria zwischen den gelben, roten und blauen runden Tischen hindurch. Hinter dem großen Glasfenster, das durch ein Metallrollo geschützt wurde, fiel der Schnee still auf einen kleinen Garten. Ordentlich geschnittene Hecken, ein Sandkasten und eine Plastikrutsche für die Kinder der Gendarmen, die hier wohnten. Dahinter erstreckten sich die weiße Ebene und dann, im Hintergrund, die Berge, die sich vor dem schwarzen Himmel abhoben. Abermals dachte er an die Klinik und ihre Insassen. Und an Hirtmann …
Sein Blut auf der Brücke.
Was bedeutete das? »Es gibt immer ein unpassendes Detail«, hatte Saint-Cyr gesagt. Manchmal war es wichtig, manchmal nicht …
Es war halb sechs, als Servaz sich in seinem Stuhl zurücklehnte und erklärte, nun sei es genug. Ziegler wirkte erschöpft. Ihr stand die Enttäuschung ins Gesicht geschrieben. Nichts. Die Akte enthielt absolut nichts, was die These des sexuellen Missbrauchs erhärtet hätte. Nicht den kleinsten Hinweis. In seinem letzten Bericht war Saint-Cyr zum gleichen Schluss gelangt. An den Rand hatte er mit Bleistift geschrieben: »Sexueller Missbrauch? Kein Beweis.« Trotzdem hatte er die Frage doppelt unterstrichen. Einmal hatte Servaz mit Ziegler über die Ferienkolonie sprechen wollen, aber dann ließ er es. Er war zu müde und zu ausgepowert.
Ziegler sah auf die Uhr.
»Ich glaube, wir werden heute Nacht nichts mehr herausfinden. Wir sollten uns ein bisschen aufs Ohr legen.«
»Soll mir recht sein. Ich fahr ins Hotel zurück. Wir treffen uns um zehn im Besprechungszimmer. Wo schläfst du?«
»Hier. In der Wohnung eines Gendarmen, der gerade in Urlaub ist. Das kommt
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