Schwarzer Schmetterling
was es zu wissen gab – und sie wussten es seit langem … Und was hatten Lombards Pferd und Hirtmann darin zu suchen? Ein weiteres Mal stellte Servaz fest, dass er einen Teil des Problems übersah.
Sie stiegen wieder hinunter und betraten die beleuchtete Außentreppe. Die Nacht war kalt und feucht. Die Bäume wühlten Schatten auf und malten den Garten in Schwarz, und irgendwo in dieser Finsternis quietschte ein Fensterladen. Noch immer auf der Treppe stehend, fragte er sich, wieso ihn der Vogelgesang so beschäftigte. Er nahm die Kassetten aus seiner Tasche und hielt sie Ziegler hin.
»Spiel die jemandem vor. Nicht nur ein paar Sekunden, sondern ganz.«
Sie warf ihm einen überraschten Blick zu.
»Ich will wissen, ob es wirklich Vogelstimmen sind, die man darauf hört. Oder vielleicht etwas anderes …«
Das Handy vibrierte in seiner Tasche. Er nahm es heraus und las auf dem Display den Namen des Anrufers: Antoine Canter, sein Chef.
»Entschuldige mich«, sagte er, die Stufen hinuntergehend. »Servaz«, antwortete er und stapfte durch den Schnee im Garten.
»Martin? Hier Antoine. Vilmer will dich sehen.«
Oberkommissar Vilmer, Chef der Kripo Toulouse. Ein Mann, den Servaz nicht mochte, aber das beruhte auf Gegenseitigkeit. In Vilmers Augen war Servaz der typische Polizist, der zum alten Eisen zählte: ein innovationsfeindlicher Individualist, der sich auf seinen Instinkt verließ und es mit den Weisungen des Ministeriums nicht so genau nahm. Vilmer träumte von glatten, gleichförmigen, gefügigen und austauschbaren Beamten.
»Ich komme morgen vorbei«, sagte er mit einem Blick auf Ziegler, die ihn vor dem Portal erwartete.
»Nein. Vilmer will dich heute Abend in seinem Büro sehen. Er erwartet dich. Keine faulen Tricks, Martin. Du hast zwei Stunden, um anzutanzen.«
Servaz verließ Saint-Martin kurz nach zwanzig Uhr. Eine halbe Stunde später fuhr er von der D 825 ab und auf die A 64 . Die Müdigkeit überfiel ihn, als er über die Autobahn raste, geblendet von den Scheinwerfern der entgegenkommenden Autos. Er hielt auf einem Rastplatz, ging in den Shop und holte sich am Getränkeautomaten einen Kaffee. Anschließend nahm er eine Dose Red Bull aus einem großen Kühlschrank, bezahlte sie an der Kasse, machte sie auf und trank sie leer, während er sich die Titelseiten der Illustrierten und Zeitungen auf den Verkaufsständern ansah, dann ging er zurück ins Auto.
Als er Toulouse erreichte, fiel Sprühregen. Er grüßte den Wachtposten, stellte seinen Wagen auf dem Parkplatz ab und eilte zu den Aufzügen. Es war 21 : 30 Uhr, als er den Knopf des obersten Stockwerks drückte. Für gewöhnlich mied Servaz diese Etage. Die dortigen Gänge erinnerten ihn ein wenig an die Zeit, die er zu Beginn seiner Laufbahn bei der Generaldirektion der Polizei verbracht hatte – wo vor allem Bürohengste gearbeitet hatten, die sich mehr für den Zeilenabstand in ihren Berichten als für Ermittlungsarbeit interessierten und jede Anfrage von einfachen Beamten so behandelten, als wäre es ein neuer Stamm des Ebola-Virus. Um diese Uhrzeit waren die meisten Mitarbeiter zu Hause, und die Gänge waren menschenleer. Er verglich diese mit Filz ausgelegten Flure mit der chaotischen Atmosphäre permanenter Anspannung, die auf dem Stockwerk herrschte, wo die Mordkommission untergebracht war. Natürlich war Servaz in der Generaldirektion auch schon vielen kompetenten und tüchtigen Menschen begegnet. Die aber drängten nur selten in den Vordergrund. Und noch seltener trugen sie modische Krawatten. Grinsend erinnerte er sich an Espérandieus Theorie: Sein Stellvertreter war der Ansicht, dass man ab einer bestimmten Anzahl von Krawatten-Anzug-Trägern pro Quadratmeter die von ihm so genannte »Kompetenzmangelzone«, »Absurditätszone« oder auch »Ego-Zone« betrat.
Er sah auf seine Uhr und beschloss, Vilmer weitere fünf Minuten warten zu lassen. Nicht alle Tage hatte man die Gelegenheit, einen Typen auf die Folter zu spannen, der seine Zeit mit Nabelschau verbrachte. Er betrat den Raum, in dem sich die Getränkeautomaten befanden, und steckte eine Münze in die Kaffeemaschine. Drei Personen – zwei Männer und eine Frau – standen plaudernd an einem Tisch. Als er hereinkam, sprachen sie augenblicklich einige Dezibel leiser; jemand machte einen Scherz.
Sinn für Humor,
sagte sich Servaz. Seine Ex-Frau hatte ihm eines Tages gesagt, der fehle ihm. Vielleicht stimmte das. Doch bewies das auch mangelnde Intelligenz? Nicht
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