Schwarzer Schmetterling
den Fersen.
Er hatte Todesangst …
21
Neunzehn Uhr. Diane hatte plötzlich großen Hunger, und sie lief zu der kleinen Kantine, wo abends für die Handvoll Bedienstete, die in der Klinik blieben, ein einheitliches Menü bereitgestellt wurde. Im Vorübergehen grüßte sie zwei Wachmänner, die an einem Tisch in der Nähe des Eingangs speisten, und nahm ein Tablett.
Sie verzog das Gesicht, als sie einen Blick durch die Glasscheiben der Theke warf: »Hähnchen mit Pommes«. Sie würde sich etwas überlegen müssen, wenn sie sich ausgewogen ernähren und am Ende ihres Aufenthalts nicht zehn Kilo mehr auf die Waage bringen wollte. Als Nachspeise wählte sie einen Obstsalat. Sie setzte sich an einen Tisch am Fenster, und beim Essen betrachtete sie die nächtliche Landschaft. Kleine Lampen, die rings um das Gebäude verteilt waren, beleuchteten den Schnee dicht über dem Boden unter den Tannen. Sie fühlte sich in eine Märchenwelt versetzt.
Als die beiden Wachleute gegangen waren, war sie allein in dem stillen und menschenleeren Saal – selbst die Angestellte hinter der Theke war verschwunden –, und eine Welle der Traurigkeit und des Zweifels brach über sie herein. Dabei war sie in ihrem Studentenzimmer mehr als einmal allein gewesen, hatte gelernt und sich auf Prüfungen vorbereitet, während die anderen losgezogen waren, um sich in den Genfer Kneipen und Diskotheken zu amüsieren. Aber nie hatte sie sich so fremd gefühlt. So einsam. So verloren. So ging es ihr hier jeden Abend, wenn es dunkel wurde.
Sie schüttelte sich und ärgerte sich über sich selbst. Was war aus ihrem kühlen Kopf, ihrer Menschenkenntnis, ihrer psychologischen Intuition geworden? Könnte sie nicht mit ihrer Selbstbeobachtung etwas weiterkommen, statt sich ihren Gefühlen zu überlassen? War sie hier ganz einfach nicht hinreichend
angepasst?
Sie kannte die Grundgleichung: mangelnde Anpassung = innerer Konflikt = Angst. Dann fegte sie dieses Argument kurz entschlossen vom Tisch. Sie wusste, was die Ursache ihres tiefen Unbehagens war. Das hatte nichts mit ihr zu tun. Es hing mit dem zusammen, was hier vor sich ging. Sie würde so lange nicht zur Ruhe kommen, bis sie mehr herausgefunden hatte. Sie stand auf und stellte ihr Tablett auf das kleine Laufband. Die Gänge waren genauso menschenleer wie die Kantine selbst.
Sie bog um die Ecke des Gangs, der zu ihrem Büro führte, und blieb abrupt stehen. Sie hatte das Gefühl, dass sie eine Kühlflüssigkeit in den Magen geschüttet bekam. Xavier war auf dem Flur. Er schloss gerade langsam die Tür
ihres
Büros … Er warf einen raschen Blick nach rechts und nach links, während sie flink hinter die Mauer zurückwich. Zu ihrer großen Erleichterung hörte sie, wie er in die andere Richtung wegging.
Hörkassetten …
Dieses Detail zog als Nächstes seine Aufmerksamkeit auf sich. Unter den Papieren, die verstreut auf dem Schreibtisch des Bürgermeisters lagen, befanden sich Hörkassetten, wie sie heutzutage niemand mehr verwendete, die Chaperon jedoch allem Anschein nach aufbewahrt hatte. Er nahm sie in die Hand und betrachtete die Etiketten:
Vogelgesang 1, Vogelgesang 2, Vogelgesang 3 …
Servaz legte sie wieder hin. In einer Ecke bemerkte er auch eine Mini-Stereoanlage mit einem Kassettenfach.
Bergsteigen, Vögel …
Dieser Mann hatte wirklich eine Passion für die Natur.
Und für altes Zeug: alte Fotos, alte Kassetten … Alter Trödel in einem alten Haus – was könnte normaler sein?
Und doch spürte Servaz, wie ihn in einem Winkel seines Gehirns ein Signal alarmierte. Es hatte etwas mit dem zu tun, was sich in diesem Zimmer befand.
Genauer gesagt mit diesem Vogelgesang.
Was hatte das zu bedeuten? Im Allgemeinen neigte er dazu, seinem Instinkt zu vertrauen, denn der warnte ihn nur selten grundlos.
Er dachte intensiv nach, aber ihm fiel nichts ein. Ziegler rief gerade die Gendarmerie an, damit diese das Haus versiegelte und ein Team von der Spurensicherung vorbeischickte.
»Wir nähern uns der Wahrheit«, sagte sie, als sie aufgelegt hatte.
»Ja«, bestätigte er mit ernster Stimme. »Aber wir sind ganz offensichtlich nicht die Einzigen.«
Die Angst schnürte ihm ein weiteres Mal die Kehle zu. Er bezweifelte jetzt nicht mehr, dass den Kern dieses Falls das Quartett Grimm-Perrault-Chaperon-Mourrenx und ihre vergangenen »Heldentaten« bildeten. Aber der oder die Mörder hatten mindestens zwei Längen Vorsprung. Im Unterschied zu Ziegler und ihm selbst wussten sie alles,
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