Schwarzer Schmetterling
absurd«, fiel sie ihm ins Wort. »Außerdem kommen wir immer wieder zum selben Punkt: Wie soll ein einzelner Mensch ohne fremde Hilfe ein Pferd dort oben aufhängen?«
»Dann vielleicht zwei Verrückte, die sich unbemerkt aus der Klinik schleichen und anschließend in ihre Zellen zurückkehren, ohne diese Gelegenheit zur Flucht zu nutzen? Das ist doch genauso abwegig.«
»In dieser Geschichte ergibt nichts irgendeinen Sinn.«
Der Hubschrauber neigte sich jäh nach rechts, um den Gipfel zu umrunden – oder aber der Berg neigte sich in die entgegengesetzte Richtung: Servaz wusste es nicht, und er schluckte wieder. Die Plattform und der bunkerartige Schachteingang verschwanden hinter ihnen. Felsen über Felsen zogen unter der Plexiglaskapsel vorbei, dann tauchte ein See auf, der viel kleiner war als der untere. Er lag versteckt in einer Bergmulde und war von einer dicken Eis- und Schneeschicht bedeckt; er sah aus wie der Krater eines gefrorenen Vulkans.
Servaz entdeckte am Rand des Sees ein Wohnhaus, das sich in der Nähe des kleinen Damms an den Fels schmiegte.
»Der obere See«, sagte Ziegler. »Und das ›Chalet‹ der Arbeiter. Sie erreichen es über eine Seilbahn, die direkt aus dem Berg in das Haus hineinführt und es mit der unterirdischen Anlage verbindet. Dort schlafen, essen und leben sie nach Feierabend. Sie verbringen fünf Tage hier, fahren dann fürs Wochenende wieder hinunter ins Tal, und das drei Wochen lang. Das Haus ist mit allem modernen Komfort ausgestattet, sogar mit Satellitenfernsehen – trotzdem bleibt es harte Arbeit.«
»Weshalb benutzen sie diese Seilbahn nicht bei der Ankunft, um zu den Maschinenräumen zu gelangen – dann müssten sie nicht den Wasserdurchfluss durch den unterirdischen Stollen blockieren?«
»Das Kraftwerk hat keinen Hubschrauber. Dieser Landeplatz wird nur in dringenden Notfällen benutzt, genauso wie die Landefläche bei der Talstation – für Bergrettungseinsätze. Und das auch nur dann, wenn es das Wetter zulässt.«
Der Hubschrauber schwebte langsam auf eine ebene Fläche hinunter, die inmitten eines Chaos aus Firnschnee und vereinzelten Moränen angelegt worden war. Eine Wolke aus Pulverschnee hüllte sie ein. Unter dem Schnee erahnte Servaz ein großes H.
»Wir haben Glück«, sprach sie ins Helmmikrophon. »Vor fünf Stunden, als die Arbeiter das Pferd entdeckt haben, hätten wir hier nicht landen können, da war das Wetter zu schlecht.«
Die Kufen des Hubschraubers berührten den Boden. Servaz hatte das Gefühl, wieder aufzuleben. Endlich weider fester Boden – auch wenn es in einer Höhe von über zweitausend Metern war. Aber nachher müssten sie auf dem gleichen Weg wieder hinunter, und bei diesem Gedanken krampfte sich ihm der Magen zusammen.
»Wenn ich es richtig verstehe, sind sie bei schlechtem Wetter, sobald der Stollen wieder geflutet ist, Gefangene des Berges. Was machen sie bei einem Unfall?«
Irène Ziegler verzog vielsagend das Gesicht.
»Sie müssen das Wasser wieder aus dem Stollen ablassen und durch den Schacht zur Seilbahn zurückkehren. Dann dauert es mindestens zwei, eher drei Stunden, bis sie das Kraftwerk erreichen.«
Servaz hätte zu gern gewusst, wie hoch die Zulagen waren, die die Arbeiter kassierten, damit sie solche Risiken eingingen.
»Wem gehört die Anlage?«
»Dem Lombard-Konzern.«
Der Lombard-Konzern.
Die Ermittlungen hatten kaum begonnen, und schon tauchte er zum zweiten Mal auf ihrem Radarschirm auf. Servaz stellte sich ein Geflecht von Firmen, Niederlassungen, Holding-Gesellschaften in Frankreich, aber wahrscheinlich auch im Ausland vor, ein Krake, dessen Tentakel überall hinreichten; und statt Blut floss darin Geld, und zwar in Milliarden von außen in Richtung Herz. Servaz war kein Wirtschaftsfachmann, aber wie jeder andere auch wusste er annähernd, was der Ausdruck »multinationales Unternehmen« bedeutete. War ein altes Kraftwerk wie dieses hier für einen Konzern wie Lombard wirklich rentabel?
Die Rotorblätter drehten sich immer langsamer, und das Pfeifen der Turbine wurde schwächer.
Stille.
Ziegler zog ihren Helm aus, öffnete die Tür und setzte einen Fuß auf den Boden. Servaz folgte ihr. Langsam gingen sie auf den zugefrorenen See zu.
»Wir befinden uns in einer Höhe von zweitausend Metern«, verkündete die junge Frau. »Das merkt man, oder?«
Tief atmete Servaz den reinen, berauschenden, eiskalten Äther ein. Ihm war leicht schwindlig – vielleicht wegen des Flugs im Hubschrauber
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