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Schwarzer Schmetterling

Schwarzer Schmetterling

Titel: Schwarzer Schmetterling Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernard Minier
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oder auch wegen der Höhe. Aber es war eher ein erhebendes als ein unangenehmes Gefühl, und er verglich es mit dem Tiefenrausch beim Tauchen. Ein Gipfelrausch – gab es das? Die Schönheit und Wildheit des Ortes beeindruckten ihn. Diese mineralische Abgeschiedenheit, diese leuchtend weiße Wüste. Die Fensterläden des Hauses waren geschlossen. Servaz versuchte, sich vorzustellen, was die Arbeiter wohl empfanden, wenn sie jeden Morgen aufstanden und die Fenster mit Seeblick öffneten, bevor sie in die Finsternis hinabstiegen. Aber vielleicht dachten sie ja nur daran: an den Arbeitstag, der sie in der Tiefe, im Innern des Berges erwartete, an den ohrenbetäubenden Lärm und das künstliche Licht, an die langen, schwer durchzuhaltenden Stunden.
    »Kommen Sie? Die Stollen wurden 1929 in den Fels getrieben, die Fabrik wurde ein Jahr später installiert«, erklärte sie, während sie auf das Haus zustapfte.
    Das Haus hatte ein großes Vordach, das auf mächtigen Pfeilern aus unbehauenem Stein ruhte, und auf diesen Säulengang gingen alle Fenster, bis auf eines, das an der Seite lag. Auf einem der Pfeiler entdeckte Servaz die Befestigungsmuffe einer Parabolantenne.
    »Haben Sie die Stollen untersucht?«
    »Natürlich. Unsere Leute sind noch unten. Aber ich glaube nicht, dass wir hier irgendetwas finden werden. Der oder die Täter sind nicht bis hierher gekommen. Sie haben einfach nur das Pferd in die Seilbahn geschafft, es dort oben aufgehängt und sind wieder hinuntergefahren.«
    Sie zog an der Holztür. Im Innern waren alle Lampen eingeschaltet. Alle Räume waren voller Menschen: die Schlafzimmer mit zwei Betten; das Wohnzimmer mit einem Fernseher, zwei Sofas und einer Anrichte; die große Küche mit einem Kantinentisch. Ziegler führte Servaz in den hinteren Teil des Gebäudes, wo es direkt in den Felsen gehauen war – ein Raum, der offenbar zugleich als Schleusenkammer und als Garderobe diente, mit Spinden und Kleiderhaken an der Wand. Hinten im Raum erkannte Servaz das gelbe Gitter der Seilbahn und dahinter das schwarze Loch eines Stollens, der ins finstere Berginnere getrieben worden war.
    Sie bedeutete ihm, einzusteigen, zog das Gitter hinter ihnen zu und drückte auf einen Knopf. Sofort sprang der Motor an, und die Kabine fuhr ruckartig an. Langsam glitt sie, leicht vibrierend, über glänzende Schienen auf einem Gefälle von fünfundvierzig Grad nach unten. Durch das Gitter sahen sie auf der schwarzen Felswand Neonröhren, die in regelmäßigen Abständen angebracht waren und ihrem Abstieg einen festen Rhythmus gaben. Der schräge Stollen mündete in einen großen Raum, der direkt in den Fels gehauen war und von reihenweise angeordneten Neonröhren hell erleuchtet wurde. Eine Fabrikhalle voller Werkzeugmaschinen, Rohre und Seile. Die Techniker, die den gleichen weißen Overall trugen wie ihre Kollegen im Kraftwerk, waren da und dort geschäftig zugange.
    »Ich würde diese Arbeiter gern sofort befragen, selbst wenn es die ganze Nacht dauert. Lassen Sie sie nicht gehen. Sind es immer dieselben, die hier hinauffahren, jeden Winter?«
    »Woran denken Sie?«
    »Im Augenblick an gar nichts. In diesem Stadium sind die Ermittlungen wie eine Kreuzung im Wald: Alle Wege gleichen sich, aber nur einer ist der richtige. Diese abgeschotteten Wochen im Gebirge, fern von jeder Zivilisation, lassen die Männer bestimmt zusammenwachsen, aber das führt auch zu Spannungen. Da muss man schon psychisch stabil sein.«
    »Ehemalige Arbeiter, die noch eine Rechnung mit Lombard offen haben? Aber was soll dann diese Inszenierung? Wenn sich jemand an seinem Arbeitgeber rächen will, dann taucht er mit einer Waffe an seinem Arbeitsplatz auf, erschießt seinen Chef oder seine Kollegen und jagt sich dann selbst eine Kugel in den Kopf. Er macht sich nicht die Mühe, ein Pferd in der Bergstation einer Seilbahn aufzuhängen.«
    Servaz wusste, dass sie recht hatte.
    »Wir sollten als Erstes recherchieren, ob irgendjemand, der in den letzten Jahren im Kraftwerk gearbeitet hat oder noch immer dort arbeitet, in psychiatrischer Behandlung war oder ist«, sagte er. »Das gilt insbesondere für die Mitglieder der Teams, die sich hier oben aufgehalten haben.«
    »Sehr gut!«, schrie sie, um den Lärm zu übertönen. »Und die Wachleute?«
    »Wir beginnen mit den Arbeitern, dann knöpfen wir uns die Wachleute vor. Falls nötig, werden wir die Nacht durchmachen.«
    »Für ein Pferd?«
    »Für ein Pferd!«, bestätigte er.
    »Wir haben Glück! Zu

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