Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schwarzer Schmetterling

Schwarzer Schmetterling

Titel: Schwarzer Schmetterling Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernard Minier
Vom Netzwerk:
normalen Zeiten herrscht hier ein Höllenlärm! Aber die Schieber wurden geschlossen, und das Seewasser strömt nicht mehr in die Verteilerkammer.«
    Servaz fand, der Lärm war auch so schon ziemlich beeindruckend.
    »Wie funktioniert das?«, fragte er mit erhobener Stimme.
    »Ich weiß nicht so genau! Der Staudamm am oberen See füllt sich bei der Schneeschmelze mit Wasser. Das Wasser wird durch unterirdische Stollen zu den Fallleitungen geführt: diese mächtigen Röhren, die man von außen sieht und die das Wasser zu den Generatoreinheiten im Kraftwerk unten im Tal leiten. Das herabstürzende Wasser treibt mit seiner Kraft die Turbinen an. Aber auch hier oben sind Turbinen installiert: Man sagt, die Turbinen sind ›in Kaskade‹ geschaltet, oder so ähnlich. Die Turbinen wandeln die Bewegungsenergie des Wassers in mechanische Energie um, anschließend wandeln die Generatoren diese mechanische Energie in Elektrizität um, die über Hochspannungsleitungen abgeführt wird. Insgesamt werden hier vierundfünfzig Millionen Kilowattstunden pro Jahr erzeugt, das entspricht dem Verbrauch einer Stadt mit dreißigtausend Einwohnern.«
    Servaz musste über diese schulmeisterlichen Ausführungen schmunzeln.
    »Für jemanden, der es nicht so genau weiß, kennen Sie sich aber ganz gut aus.«
    Er ließ den Blick über die schwarze Felshöhle gleiten, die von Gittern und Metallstrukturen überzogen war: Kabelbäume, Neonlampen, Belüftungsrohre zogen sich daran entlang, dann die riesigen vorsintflutlichen Maschinen, die Schalttafeln, der Betonboden …
    »Sehr gut«, sagte er. »Fahren wir wieder hinauf, denn hier werden wir nichts finden.«
    Der Himmel hatte sich zugezogen, als sie wieder nach oben kamen. Große dunkle Wolken zogen über den gefrorenen Krater, der plötzlich etwas Unheimliches hatte. Ein stürmischer Wind trieb die Schneeflocken vor sich her. Mit einem Mal passte die Szenerie zu dem Verbrechen: etwas Chaotisches, Schwarzes, Erschreckendes – ein Ort, wo das Heulen des Windes das verzweifelte Wiehern eines Pferdes leicht ersticken konnte.
    »Beeilen wir uns«, drängte er Irène Ziegler. »Das Wetter schlägt um!«
    Böen zerzausten ihr blondes Haar, Strähnen lösten sich aus ihrer Frisur.

4
    » Mademoiselle Berg, ich sage Ihnen ganz offen, dass ich nicht verstehe, wieso Dr. Wargnier Ihnen eine Stelle angeboten hat. Ich meine: Klinische Psychologie, Entwicklungspsychologie, die Freudsche Theorie – der ganze …
alte Kram.
Im Grunde wäre mir die Klinische Methode der Angelsachsen lieber gewesen.«
    Dr. Francis Xavier saß hinter einem großen Schreibtisch. Er war ein sehr gepflegter, kleiner, noch junger Mann mit gefärbten Haaren, der unter seinem weißen Kittel eine Krawatte mit schrillen Blumenmotiven sowie eine extravagante rote Brille trug. Er sprach mit einem leichten frankokanadischen Akzent, der seine Herkunft aus Québec verriet.
    Diane warf einen verschämten Blick auf ein Exemplar des DSM - IV , des
Handbuchs psychischer Störungen,
das von der Amerikanischen Vereinigung für Psychiatrie herausgegeben wurde – es war das einzige Buch auf dem Schreibtisch. Sie runzelte leicht die Stirn. Die Wendung, die das Gespräch genommen hatte, missfiel ihr – doch sie wartete, bis der kleine Mann seine Karten auf den Tisch gelegt hatte.
    »Sie müssen mich verstehen, ich bin Psychiater. Und … wie soll ich sagen? Mit Verlaub, ich weiß nicht, was es unserer Klinik bringen soll, wenn Sie hier arbeiten …«
    »Ich … ich bin hier, um meine Kenntnisse zu vertiefen und mich fortzubilden, Dr. Xavier. Dr. Wargnier hat Ihnen das doch bestimmt gesagt. Außerdem hat Ihr Vorgänger vor seinem Ausscheiden einen Stellvertreter eingestellt, und er hat seine Zustimmung zu meiner Abwesenheit …, Verzeihung, meiner Anwesenheit hier gegeben. Er hat sich gegenüber der Universität Genf zu dieser Berufung verpflichtet. Wenn Sie nicht wollten, dass ich komme, hätten Sie uns im Vorhinein davon in Kenntnis setzen …«
    »Um Ihre Kenntnisse zu vertiefen und sich fortzubilden? …«
Unmerklich kniff Xavier die Lippen zusammen. »Wo, glauben Sie, sind Sie hier? An einer Universität? Die Mörder, die Sie am Ende dieser Korridore erwarten« – er wies auf die Tür seines Büros –, »sind monströser als die schlimmsten Ungeheuer in Ihren Alpträumen, Mademoiselle Berg. Sie sind unsere Nemesis. Unsere Strafe dafür, dass wir Gott getötet und Gesellschaften aufgebaut haben, in denen das Böse zur Norm

Weitere Kostenlose Bücher