Schwarzer Schmetterling
geworden ist.«
Den letzten Satz fand sie recht hochtrabend. Wie übrigens auch alles andere an Dr. Xavier. Aber die Art und Weise, wie er den Satz ausgesprochen hatte – in einer sehr seltsamen Mischung aus Furcht und Wollust –, ließ sie schaudern. Sie spürte, wie sich ihr die Haare im Nacken aufstellten.
Er hat Angst vor ihnen. Nachts im Traum verfolgen sie ihn, oder er hört sie von seinem Zimmer aus schreien.
Sie betrachtete die wenig natürliche Farbe seiner Haare und dachte an Gustav von Aschenbach in Thomas Manns
Tod in Venedig,
der sich die Haare, die Brauen und den Schnurrbart färbt, um einem Knaben zu gefallen, der ihm am Strand ins Auge fällt, und sich über den herannahenden Tod hinwegzutäuschen. Ohne zu bemerken, wie verzweifelt und mitleiderregend dieser Versuch ist.
»Ich habe Erfahrungen in Rechtspsychologie. Ich hatte in drei Jahren mit mehr als hundert Sexualstraftätern zu tun.«
»Und mit wie vielen Mördern?«
»Mit einem.«
Er warf ihr ein kurzes, kaltes Lächeln zu. Dann beugte er sich über ihre Unterlagen.
»Lizenziat in Psychologie, Diplom in Klinischer Psychologie an der Universität Genf«, las er vor, während seine rotrandige Brille die Nase hinunterrutschte.
»Ich habe vier Jahre lang in einer Privatpraxis für Psychotherapie und Rechtspsychologie gearbeitet. Im Auftrag der Justizbehörden habe ich dort forensische Gutachten erstellt. Das ist auch in meinem Lebenslauf vermerkt.«
»Irgendwelche Praktika in Justizvollzugsanstalten?«
»Ein Praktikum in der Krankenstation der JVA Champ-Dollon als rechtspsychologische Zweitgutachterin und in der Betreuung von Sexualstraftätern.«
»International Academy of Law and Mental Health, Genfer Psychologen- und Psychotherapeutenverband, Schweizerische Gesellschaft für Rechtspsychologie … Schön, schön, schön …«
Wieder blickte er sie an. Sie hatte den unangenehmen Eindruck, vor einem Prüfungsausschuss zu stehen.
»Da wäre nur eine Sache … Sie verfügen nicht über die notwendige Erfahrung für diese Art Patienten, Sie sind jung, Sie müssen noch viel lernen, Sie könnten – ganz ohne es zu wollen – durch Ihre Unerfahrenheit all unsere Bemühungen
zunichtemachen.
Das alles sind Faktoren, die sich als eine zusätzliche Belastung für unsere Klientel erweisen könnten.«
»Was wollen Sie damit sagen?«
»Tut mir leid, aber ich möchte, dass Sie sich von unseren sieben gefährlichsten Insassen fernhalten: Sie sind in der Abteilung A untergebracht. Und ich brauche keine Assistentin, denn ich habe bereits eine Oberschwester, die mir zur Hand geht.«
Sie schwieg so lange, dass er schließlich eine Braue hochzog. Als sie sprach, tat sie es mit ruhiger, aber fester Stimme.
»Doktor Xavier, genau für sie bin ich hier. Dr. Wargnier hat es Ihnen doch bestimmt gesagt. Sie müssen doch unseren Briefwechsel in Ihren Unterlagen haben. Unsere Absprache war ganz klar: Dr. Wargnier hat mir nicht nur gestattet, mit den sieben Insassen der Abteilung A in Kontakt zu treten, er hat mich darüber hinaus gebeten, nach diesen Gesprächen ein psychologisches Gutachten zu erstellen – und das gilt insbesondere für Julian Hirtmann.«
Sie sah, wie sich seine Miene verdüsterte. Sein Lächeln verschwand.
»Mademoiselle Berg, diese Klinik wird nicht mehr von Dr. Wargnier geleitet, sondern von mir.«
»Wenn das so ist, dann gibt es für mich hier nichts zu tun. Ich werde Ihre Aufsichtsbehörde wie auch die Universität Genf davon in Kenntnis setzen. Und Dr. Spitzner. Ich habe einen weiten Weg hinter mir. Sie hätten mir diese überflüssige Fahrt ersparen können.«
Sie stand auf.
»Mademoiselle Berg, jetzt machen Sie mal langsam!«, sagte Xavier, während er sich aufsetzte und die Arme ausbreitete. »Regen Sie sich nicht auf! Setzen Sie sich! Setzen Sie sich doch, bitte! Sie sind hier willkommen. Verstehen Sie mich recht: Ich habe nichts gegen Sie. Ich bin mir sicher, dass Sie Ihr Bestes geben werden. Und wer weiß? Vielleicht … könnte eine … sagen wir, eine ›interdisziplinäre‹ Sichtweise einen Beitrag zum besseren Verständnis dieser
Monster
leisten. Ja, ja – wieso nicht? Ich bitte Sie lediglich darum, die Kontakte zu diesen Personen auf das absolute Minimum zu beschränken und die internen Dienstvorschriften genauestens zu befolgen. Ruhe und Ordnung in dieser Einrichtung beruhen auf einem labilen Gleichgewicht. Selbst wenn wir hier viel strengere Sicherheitsvorkehrungen treffen als in einer
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