Schwarzer Schmetterling
ihrer Kompetenz zu verdanken. Ich habe größtes Vertrauen in sie. Mit ihr brauchen Sie nicht Ihre Zeit zu verschwenden.«
Servaz sah auf die Liste.
»Sie meinen Elisabeth Ferney?«
Xavier nickte.
»Eine Vertrauensperson«, bekräftigte er.
Servaz hob den Kopf und sah den Psychiater fest an – bis der rot anlief.
»Danke«, sagte er, faltete das Blatt zusammen und steckte es in seine Tasche. Er zögerte kurz. »Ich möchte Ihnen eine Frage stellen, die nichts mit den Ermittlungen zu tun hat. Eine Frage an den Psychiater und den Menschen, nicht an den Zeugen.«
Xavier zog erstaunt eine Braue hoch.
»Glauben Sie an die Existenz des Bösen, Doktor?«
Der Psychiater schwieg ungewöhnlich lange. Während dieser ganzen Zeit starrte er Servaz durch seine seltsame rotgefasste Brille an, als wollte er erraten, worauf der Polizist hinauswollte.
»Als Psychiater«, antwortete er schließlich, »sage ich Ihnen, dass die Psychiatrie diese Frage nicht beantworten kann. Dafür ist die Philosophie zuständig. Und insbesondere die Ethik. Aus dieser Perspektive kann das Böse nicht ohne das Gute gedacht werden. Haben Sie schon vom Stufenmodell der moralischen Entwicklung nach Kohlberg gehört?«, fragte der Psychiater.
Servaz schüttelte den Kopf.
»Lawrence Kohlberg war ein amerikanischer Psychologe. In Anlehnung an die Theorie Piagets über die Phasen der kognitiven Entwicklung hat Kohlberg sechs Stufen der Moralentwicklung unterschieden.«
Xavier machte eine Pause, ließ sich in seinen Sessel zurücksinken und faltete die Hände auf seinem Bauch, während er sich sammelte.
»Laut Kohlberg vollzieht sich die Entwicklung des moralischen Bewusstseins beim Menschen in Stufen. Dabei kann keine Stufe übersprungen werden. Hinter eine einmal erreichte Stufe kann der Einzelne nicht mehr zurückfallen: Er hat sie für sein ganzes Leben sozusagen ›gesichert‹. Aber nicht alle Menschen erreichen die letzte, höchste Stufe. Viele bleiben auf einer niedrigen moralischen Entwicklungsstufe stehen. Diese Stufen sind übrigens unabhängig von der kulturellen Zugehörigkeit des Einzelnen, sie sind
transkulturell.
«
Servaz spürte, dass er das Interesse des Psychiaters geweckt hatte.
»Auf der Stufe 1 «, hob Xavier voller Begeisterung an, »ist gut das, was belohnt wird, und böse das, was eine Bestrafung nach sich zieht. Etwa wenn man einem Kind mit einem Lineal auf die Finger haut, um ihm klarzumachen, dass es etwas Schlechtes getan hat. Gehorsam wird als ein Wert an sich betrachtet – das Kind gehorcht, weil der Erwachsene die Macht hat, es zu bestrafen. Auf der zweiten Stufe gehorcht das Kind nicht mehr nur, um einer Autoritätsfigur zu gehorchen, sondern um Belohnungen zu erhalten: Es beginnt eine Art ›Tauschhandel‹ …«
Xavier lächelte leise.
»Die Stufe 3 ist die erste Stufe der konventionellen Moral – hier strebt der Einzelne danach, die Erwartungen der anderen, seines Umfeldes zu erfüllen. Das Urteil der Familie, der Gruppe ist hier entscheidend. Das Kind lernt Respekt, Loyalität, Vertrauen, Dankbarkeit. Auf der Stufe 4 erweitert sich der Begriff der Gruppe auf die ganze Gesellschaft. Da geht es um die Achtung vor dem Gesetz und der sozialen Ordnung. Dabei befinden wir uns noch immer im Bereich der konventionellen Moral, des Konformismus: Das Gute besteht darin, seine Pflicht zu erfüllen, das Böse ist, was die Gesellschaft verdammt.«
Xavier neigte sich vor.
»Ab Stufe 5 befreit sich das Individuum von dieser konventionellen Moral und überwindet sie. Das ist die postkonventionelle Moral. Der Mensch wird vom Egoisten zum Altruisten. Er weiß auch, dass jeder Wert relativ ist, dass die Gesetze zwar geachtet werden müssen, aber nicht unbedingt ›gut‹ sind. Er denkt vor allem an das Gemeinwohl. Auf Stufe 6 schließlich macht sich der Einzelne frei gewählte ethische Grundsätze zu eigen, die im Widerspruch zu den Gesetzen seines Landes stehen können, falls er diese als unmoralisch beurteilt. Ausschlaggebend sind jetzt sein Gewissen und seine Rationalität. Das moralische Individuum der Stufe 6 hat eine klare, kohärente und integrierte Vorstellung von seinem Wertesystem. Es ist ein Akteur, der sich im Vereinsleben und in karitativen Organisationen engagiert – ein erklärter Gegner der Geschäftemacherei, des Egoismus und der Habgier.«
»Das ist sehr interessant«, sagte Servaz.
»Nicht wahr? Ich brauche Ihnen wohl nicht zu sagen, dass sehr viele Menschen auf den Stufen 3 und 4
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