Schwarzer Schmetterling
waten, und er erinnerte sich an den entsprechenden Abschnitt in Alices Tagebuch; nach wenigen Schritten waren seine Halbschuhe im gleichen erbärmlichen Zustand wie der Volvo. Wieder prasselte heftiger Regen auf den Wald nieder. Zunächst bewegte er sich im Schutz der Bäume, aber sobald der Weg über die Lichtung führte, wo hohes Gras und Brennnesseln die Schneedecke durchbrachen, trommelte der Regen auf seinen Schädel wie Dutzende kleiner Finger, die einen wilden Rhythmus schlugen. Servaz klappte den Kragen über seinen triefenden Nacken. Die Kolonie lag völlig ausgestorben in dem Regenguss.
Als er sich den Gebäuden näherte, dort, wo der Pfad leicht abfiel, rutschte er im Schlamm aus und wäre beinahe der Länge nach hingefallen. Er verlor seine Waffe, die in einer Pfütze landete. Er fluchte, als er sie aufhob. Falls ihn jemand heimlich beobachtete, sagte er sich, dann böte er ihm mit seinem Ungeschick jedenfalls einen höchst amüsanten Anblick.
Die Gebäude schienen auf ihn zu warten. Seine Hose und seine Hände waren schlammverschmiert, der Rest seiner Kleidung vom Regen durchnässt.
Servaz rief, aber niemand antwortete. Sein Puls spielte verrückt. Nach und nach schalteten alle Alarmsignale auf Rot. Wer konnte in dieser menschenleeren Kolonie herumspazieren – und aus welchem Grund? Und, vor allem, warum antwortete er nicht? Servaz’ Rufen konnte er nicht überhört haben, das Echo trug es überallhin weiter.
Die drei Gebäude waren zwar im Chaletstil, aber aus Beton gebaut und wiesen nur ein paar Holzverzierungen auf; sie hatten große Schieferdächer, Fensterreihen auf den Stockwerken und große Glasfronten im Erdgeschoss. Sie waren untereinander durch überdachte, aber seitlich offene Gänge verbunden. Kein Licht hinter den Fenstern. Die Hälfte der Scheiben fehlten. Einige waren durch Sperrholzplatten ersetzt worden. Durchlöcherte Dachrinnen spien Wasserfälle aus, die den Boden vollspritzten. Servaz ließ den Lichtkegel seiner Taschenlampe über die Fassade des Hauptgebäudes gleiten und entdeckte ein Motto, das in verwaschenen Lettern über dem Eingang prangte:
»Die Schule des Lebens kennt keine Ferien.« Die des Verbrechens auch nicht,
dachte er.
Plötzlich eine Bewegung am Rand seines Gesichtsfeldes, links. Er drehte sich jäh in diese Richtung. Im nächsten Moment war er sich nicht mehr sicher, was er da gerade gesehen hatte. Vielleicht waren es nur Äste gewesen, die im Wind schwankten. Trotzdem war er fast überzeugt, in dieser Richtung einen Schatten gesehen zu haben. Einen Schatten unter den Schatten …
Diesmal überprüfte er, ob die Waffe auch tatsächlich entsichert war, und lud sie durch. Dann ging er wachsam weiter. Als er um die Ecke des Chalets ganz links bog, musste er aufpassen, wohin er seine Füße setzte, denn der Boden fiel jäh ab, und der klebrige Schlamm bot keinerlei Halt. Zu beiden Seiten ragten die mächtigen geraden Stämme mehrerer Buchen auf – unwillkürlich blickte er hinauf zu den schwarzen Ästen, zwischen denen er Flecken des grauen Himmels erspähte, während ihm der Regen aufs Gesicht klatschte. Der morastige Hang fiel zwischen den Stämmen einige Meter zu einem Bach ab.
Plötzlich eine Wahrnehmung.
Ein Lichtschimmer …
So matt und flackernd wie ein Irrlicht. Er zwinkerte, um den Regen von seinen Wimpern zu wischen: Aber der Lichtschein war immer noch da.
Mist, was ist das denn?
Eine Flamme …
Sie tanzte unbeständig und winzig einen Meter über dem Boden, an einem der senkrechten Stämme.
Unablässig schrillte seine innere Alarmanlage. Diese Flamme hatte jemand angezündet – und dieser Jemand konnte nicht weit weg sein. Servaz sah sich um. Dann schlitterte er den Hang hinunter zu dem Baum und wäre dabei beinahe ein weiteres Mal im Schlamm ausgerutscht.
Eine Kerze …
So ein Teelicht, wie sie in Stövchen verwendet wurden oder auch, um ein Zimmer gemütlich zu machen. Sie stand auf einem kleinen Brett, das am Stamm befestigt war. Der Lichtkegel seiner Taschenlampe strich über die rauhe Borke, und plötzlich entdeckte er etwas, was ihn augenblicklich erstarren ließ. Wenige Zentimeter über der Flamme. Ein großes Herz. Mit einer Messerspitze in die Rinde geschnitten. Im Innern fünf Namen:
Ludo + Marion + Florian + Alice + Michaël …
Die Selbstmörder …
Servaz starrte das Herz an, versteinert, sprachlos.
Der Regen löschte die Flamme aus.
Und da kam der Angriff. Wild, brutal, erschreckend. Plötzlich spürte er, dass er
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