Schwarzer Schmetterling
einige Schattenzonen, einige Türen in dem langen Gang zur Wahrheit, die geöffnet werden mussten. Wie andere Frauen aus der Region war auch Ziegler von den vier Männern vergewaltigt worden. Die Bücher, die er in ihrer Wohnung gesehen hatte, bewiesen, dass sie das Trauma nicht bewältigt hatte. Grimm und Perrault waren wegen der Vergewaltigungen, die sie begangen hatten, umgebracht worden. Aber warum erhängt? Wegen der Selbstmörder? Oder war da noch etwas anderes? Ein Detail ließ ihm keine Ruhe: Chaperon, der sein Haus fluchtartig verlassen hatte, als wäre ihm der Teufel auf den Fersen. Wusste er, wer der Mörder war?
Er versuchte, sich zu beruhigen: Ziegler wurde überwacht, und sie wussten, wo sich Chaperon versteckte – sie hatten alle Karten in der Hand.
Lag es vielleicht nur an dieser eisigen Zugluft oder an diesem Wasser, das immer kälter wurde, oder an der Erinnerung daran, wie sein Kopf in einer Plastiktüte gesteckt hatte? Jedenfalls zitterte er an diesem Morgen, und das Gefühl, das er in diesem menschenleeren Duschraum empfand, hieß Angst.
Er saß bereits in dem noch leeren Besprechungszimmer an einem Tisch, vor sich einen Kaffee, als nacheinander die anderen eintrafen. Maillard, Confiant, Cathy d’Humières, Espérandieu und zwei weitere Beamte der Mordkommission: Pujol und Simeoni, die beiden Machos, die Vincent auf dem Kieker hatten. Alle nahmen Platz und blätterten in ihren Notizen, und das Rascheln der Papiere erfüllte den Raum. Servaz betrachtete diese bleichen, übermüdeten, gereizten Gesichter. Die Anspannung war spürbar. Er schrieb einige Wörter auf seinen Block, bis alle so weit waren, dann blickte er auf und legte los.
Er zog eine Zwischenbilanz. Als er erzählte, was ihm in der Kolonie passiert war, wurde es plötzlich still. Pujol und Simeoni starrten ihn an. Beide schienen zu denken, dass ihnen so etwas nie hätte passieren können. Vielleicht stimmte es sogar. Sie mochten besonders unsympathische Vertreter ihrer Zunft sein – dennoch waren sie erfahrene Polizisten, auf die man im Fall der Fälle zählen konnte.
Dann erzählte er, dass seiner Überzeugung nach Irène Ziegler die Taten begangen hatte – diesmal erbleichte Maillard und biss die Zähne zusammen. Eine gedrückte Stimmung machte sich breit. Eine Gendarmin, die von ihren Kollegen des Mordes verdächtigt wurde – das konnte nur zu allen möglichen Reibereien führen.
»Üble Geschichte«, bemerkte d’Humières nüchtern.
Er hatte sie selten so bleich gesehen. Ihre vor Müdigkeit eingefallenen Gesichtszüge verliehen der Staatsanwältin ein kränkliches Aussehen. Er warf einen Blick auf die Uhr. Acht Uhr. Ziegler musste gleich aufwachen. Wie um diese Gedanken zu bestätigen, läutete sein Handy.
»Es ist so weit, sie steht auf!«, sagte Samira Cheung in den Apparat.
»Pujol«, sagte er sofort, »du fährst so schnell wie möglich zu Samira. Ziegler ist wach. Ich will einen dritten Wagen als Unterstützung. Sie gehört zur Familie, sie darf euch auf keinen Fall entdecken. Simeoni, du nimmst das dritte Auto. Fahrt nicht zu dicht auf. Wir wissen ja eh, wohin sie fährt. Besser, ihr verliert sie, als dass sie merkt, dass sie beschattet wird.«
Pujol und Simeoni verließen wortlos das Zimmer. Servaz stand auf und trat an die Wand, an der eine große Karte der Umgebung hing. Eine Zeitlang pendelte sein Blick zwischen seinem Notizblock und der Karte, dann legte er den Zeigefinger auf einen bestimmten Punkt. Ohne ihn loszulassen, drehte er sich um und sah eindringlich in die Runde.
»Da.«
Eine Rauchfahne stieg spiralförmig von der Hütte auf, über deren moosbedecktem Dach ein Ofenrohr aufragte. Servaz sah sich um. Graue Wolken umrankten die bewaldeten Hänge. Die Luft roch nach Feuchtigkeit, Nebel, modrigem Unterholz und Rauch. Zu ihren Füßen, zwischen den Bäumen, stand die Hütte in der Mulde eines verschneiten kleinen Tals, mitten auf einer Lichtung, die von dichtem Wald gesäumt wurde. Nur ein Pfad führte dorthin. Drei Gendarmen und ein Jagdaufseher überwachten, perfekt getarnt, den Zugang. Servaz wandte sich zu Espérandieu und Maillard um, die mit einem Kopfnicken antworteten, und sie begannen, begleitet von etwa zehn Mann, langsam mit dem Abstieg in das kleine Tal.
Plötzlich blieben sie stehen. Soeben war ein Mann vor die Hütte getreten. Er streckte sich in dem noch ganz jungen Tag, atmete in tiefen Zügen die frische Luft ein, spuckte auf den Boden, und dann hörten sie ihn von der
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