Schwarzer Schmetterling
Greg an. Ein attraktiver Mann um die dreißig: braun, mit hellen Augen – aber als sein Blick den von Diane kreuzte, lief es ihr kalt über den Rücken.
»Machen wir weiter?«
Ein langer Flur, von der Abenddämmerung in glühendes Rot getaucht.
Eine Tür mit einem kleinen runden Fenster zu ihrer Linken. Stimmen drangen hindurch. Ein schnelles, aufgeregtes Schwatzen. Ein regelrechter Redeschwall. Im Vorübergehen warf sie einen Blick durch das kleine runde Fenster, und was sie sah, erschütterte sie: Ein Mann lag ausgestreckt auf einem OP -Tisch, eine Sauerstoffmaske auf dem Gesicht, Elektroden an den Schläfen. Krankenpfleger standen um ihn herum.
»Was ist das?«, fragte sie.
»Elektrokrampftherapie.«
Elektroschocks
… Diane spürte, wie sich ihr im Nacken die Haare aufrichteten. Seit dem Beginn ihrer therapeutischen Anwendung in der Psychiatrie in den 1930 er Jahren war die Elektroschocktherapie umstritten. Ihre Gegner sahen in ihr eine unmenschliche, entwürdigende Behandlungsform, geradezu eine Folter. So dass in den 1960 er Jahren mit dem Aufkommen der Neuroleptika die Elektrokrampftherapie immer weniger angewandt wurde. Ehe sie dann in den 1980 er Jahren in zahlreichen Ländern – darunter auch Frankreich – ein regelrechtes Comeback erlebte.
»Sie müssen wissen«, sagte Xavier angesichts ihres Schweigens, »die heutige Elektrokrampftherapie hat nichts mehr mit dem früheren Behandlungsverfahren gemeinsam. Sie wird bei Patienten mit schwersten Depressionen angewandt. Der Eingriff erfolgt unter Vollnarkose, und die Patienten erhalten ein Muskelrelaxans, das rasch abgebaut wird. Die Behandlung ist erstaunlich erfolgreich: Bei mehr als fünfundachtzig Prozent der Fälle von schwerer Depression führt sie zu einer deutlichen Verbesserung der Symptomatik. Damit ist sie wirksamer als eine Behandlung mit Antidepressiva. Sie ist schmerzlos, und bei den modernen Methoden haben wir auch nicht mehr mit Folgeschäden am Skelett oder orthopädischen Komplikationen zu tun.«
»Aber es gibt Spätfolgen für Gedächtnisleistung und Denkvermögen. Und manche Patienten sind mehrere Stunden lang verwirrt. Außerdem hat man den genauen Wirkungsmechanismus der Elektrokrampftherapie noch immer nicht aufgeklärt. Haben Sie hier viele Depressive?«
Xavier warf ihr einen argwöhnischen Blick zu:
»Nein. Nur zehn Prozent unserer Patienten sind depressiv.«
»Wie viele Schizophrene und Psychopathen?«
»Ungefähr fünfzig Prozent Schizophrene, fünfundzwanzig Prozent Psychopathen und dreißig Prozent Psychotiker, warum?«
»Sie wenden die EKT doch sicher nur bei Depressionen an?«
Sie hatte das Gefühl, einen leichten Lufthauch zu spüren. Xavier fasste sie scharf ins Auge.
»Nein, wir wenden sie auch bei den Insassen der Station A an.«
Verwundert hob sie eine Braue.
»Ich dachte, dazu braucht man das Einverständnis des Patienten oder eines gesetzlichen Betreuers …«
»Das ist der einzige Fall, in dem wir davon absehen …«
Sie ließ den Blick über Xaviers verschlossenes Gesicht gleiten. Irgendetwas begriff sie nicht. Sie atmete tief ein und versuchte, ihrer Stimme einen möglichst neutralen Tonfall zu geben:
»Und in welcher Absicht? Nicht in therapeutischer jedenfalls … Denn bei anderen psychischen Störungen als bei Depression, Manien und seltenen Sonderformen der Schizophrenie ist die Wirksamkeit der EKT nicht belegt und …«
»Im Interesse der Allgemeinheit.«
Diane runzelte die Stirn.
»Ich verstehe nicht.«
»Dabei liegt es doch auf der Hand: Es handelt sich um eine Strafe.«
Er wandte ihr jetzt den Rücken zu, er betrachtete die orangefarbene Sonne, die hinter den schwarzen Bergen unterging. Sein Schatten erstreckte sich hinter ihm über den Fußboden.
»Bevor Sie die Station A betreten, sollten Sie eine Sache verstehen, Mademoiselle Berg: Diese sieben Typen erschreckt nichts mehr. Nicht einmal die Aussicht auf Isolation. Sie leben in ihrer eigenen Welt, nichts und niemand kann sie dort erreichen. Lassen Sie sich das gesagt sein: Solchen Patienten sind Sie noch nicht begegnet. Nie. Und natürlich sind körperliche Strafen verboten, hier wie anderswo auch.«
Er drehte sich um und schaute sie unverwandt an.
»Sie fürchten sich nur vor einem … den Elektroschocks.«
»Sie wollen damit sagen«, sagte Diane stockend, »diesen Patienten verabreichen Sie Elektroschocks …?«
»Ohne Narkose.«
8
A ls Servaz am nächsten Tag über die Autobahn fuhr, dachte er an die Wachleute.
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