Schwarzer Schmetterling
psychiatrischen Anstalt ausgebrochen war, sondern ein eiskalt durchdachtes, wohlgeplantes Verbrechen.
Er unterbrach seine Lektüre, um nachzudenken. Er schreckte davor zurück, einen Weg einzuschlagen, auf dem er sämtliche Leichen im Keller eines Industrieimperiums ausgraben müsste, nur um den Tod eines Pferdes aufzuklären. Andererseits war da der schreckliche Anblick, als das enthauptete Pferd aus der Seilbahnkabine herausgeholt wurde, und der Schock, den ihm dieser Anblick versetzt hatte. Was hatte Marchand noch gesagt? »Monsieur Lombard hat viele Feinde.«
Das Telefon läutete. Servaz hob ab. Es war d’Humières.
»Die Wachleute sind verschwunden.«
»Wenden Sie ihnen niemals den Rücken zu«, sagte Dr. Xavier.
Hinter den großen Glasfenstern färbte die untergehende Sonne die Berge rot, und ihre rote Lava überflutete den Raum.
»Seien Sie immer aufmerksam. In jeder Sekunde. Hier dürfen Sie sich keinen Fehler erlauben. Sie werden schnell lernen, die Anzeichen zu erkennen: einen ausweichenden Blick, ein Grinsen, ein etwas zu schnelles Atmen … Seien Sie immer auf der Hut. Und wenden Sie ihnen nie den Rücken zu.«
Diane nickte. Ein Patient kam auf sie zu. Eine Hand auf dem Bauch.
»Wo ist der Krankenwagen, Doktor?«
»Der Krankenwagen?«, fragte Xavier lächelnd.
»Der Krankenwagen, der mich in die Entbindungsklinik bringen soll. Ich hatte einen Fruchtwasserabgang. Er sollte längst da sein.«
Der Patient war ein Mann um die vierzig, der über eins neunzig groß war und um die hundertfünfzig Kilogramm wiegen musste. Langes Haar, ein Gesicht, das von einem dichten Bart überwuchert war, mit fiebrig leuchtenden kleinen Augen. Im Vergleich dazu hatte Xavier das Gesicht eines Kindes. Dennoch schien er nicht beunruhigt zu sein.
»Er wird gleich da sein«, antwortete er. »Ist es ein Junge oder ein Mädchen?«
Die kleinen Augen starrten ihn an.
»Es ist der Antichrist«, sagte der Mann.
Er ging wieder weg. Diane fiel auf, dass ein Pfleger all seine Bewegungen aufmerksam verfolgte. Im Gemeinschaftsraum hielten sich etwa fünfzehn Patienten auf.
»Götter und Propheten gibt es hier einige«, äußerte Xavier, der in einem fort lächelte. »Der Wahnsinn hat schon immer aus religiösen und politischen Registern geschöpft. Früher sahen unsere Insassen überall Kommunisten. Heute sehen sie überall Terroristen. Kommen Sie.«
Der Psychiater trat an einen runden Tisch, an dem drei Männer Karten spielten. Einer sah mit seinen muskulösen Armen und seinen Tattoos wie ein Knastbruder aus, die beiden anderen machten einen normalen Eindruck.
»Das hier ist Antonio«, stellte Xavier den Tätowierten vor. »Antonio war in der Fremdenlegion. Leider war er fest davon überzeugt, dass es in dem Lager, in das er abkommandiert worden war, von Spionen nur so wimmelte, und eines Nachts hat er schließlich einen erwürgt. Nicht wahr, Antonio?«
Antonio nickte, ohne die Karten aus den Augen zu lassen.
»Mossad«, sagte er. »Sie sind überall.«
»Robert hat sich seine Eltern vorgeknöpft. Er hat sie nicht umgebracht, nein, nur ganz übel zugerichtet. Man muss dazu sagen, dass seine Eltern ihn auf dem Bauernhof schuften ließen, seit er sieben war, ihm nur Brot und Milch zu essen gaben und ihn dazu zwangen, im Keller zu schlafen. Robert ist siebenunddreißig . Diese Eltern hätte man einsperren müssen, wenn Sie meine Meinung hören wollen.«
»Die Stimmen haben es mir befohlen«, sagte Robert.
»Das hier ist Greg. Vielleicht der interessanteste Fall. Greg hat in weniger als zwei Jahren ein Dutzend Frauen vergewaltigt. Sie sind ihm auf der Post oder im Supermarkt aufgefallen, er ist ihnen nachgegangen und hat auf diese Weise herausgefunden, wo sie wohnen. Als sie schliefen, ist er bei ihnen eingedrungen, hat sie geschlagen und gefesselt und sie auf den Bauch gelegt, ehe er Licht machte. Lassen wir beiseite, was er ihnen im Detail angetan hat: Seine Opfer werden jedenfalls ihr Leben lang unter den Spätfolgen zu leiden haben. Aber er brachte sie nicht um. Stattdessen fing er eines schönen Morgens an, ihnen zu schreiben. Er war überzeugt, dass sie nach diesem … Verkehr in ihn verliebt waren und dass er sie alle geschwängert hatte. Folglich gab er ihnen seinen Namen und seine Anschrift, und es dauerte nicht lange, bis die Polizei bei ihm auftauchte. Greg schreibt ihnen noch immer. Natürlich geben wir die Briefe nicht auf. Ich werde sie Ihnen zeigen. Es sind wirklich wunderbare Briefe.«
Diane sah
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