Schwarzer Schmetterling
Laut Cathy d’Humières waren sie am Vortag nicht zur Arbeit erschienen. Nach einer Stunde hatte der Direktor des Kraftwerks zum Telefon gegriffen.
Er hatte sie auf ihren Handys angerufen. Einen nach dem anderen. Keine Antwort. Da hatte Morane die Gendarmerie verständigt, die Beamte zu ihnen nach Hause geschickt hatte – der eine wohnte zwanzig Kilometer von Saint-Martin entfernt, der andere vierzig. Beide lebten allein; beiden war es verboten, in denselben Departements wie ihre ehemaligen Lebensgefährtinnen zu wohnen, die sie mehrfach mit dem Tode bedroht hatten – einer hatte seine sogar krankenhausreif geschlagen. Servaz wusste ganz genau, dass sich die Polizei in der Praxis kaum darum bemühte, solche Auflagen durchzusetzen. Und das aus einem naheliegenden Grund: Es gab mittlerweile zu viele Verbrecher, zu viele Polizeiaufsichten, zu viele Gerichtsverfahren, zu viele Strafen, um sich um alle zu kümmern. Hunderttausend zu Freiheitsstrafen verurteilte Kriminelle befanden sich auf freiem Fuß und warteten darauf, ihre Strafe anzutreten; oder sie hatten beim Verlassen des Gerichts das Weite gesucht, in dem Wissen, dass der französische Staat wohl kaum Geld und Personal für die Fahndung nach ihnen aufwenden würde, und in der Hoffnung, bis zur Verjährung ihrer Strafe in Vergessenheit zu geraten.
Nachdem die Staatsanwältin ihn über die Wachleute informiert hatte, hatte sie ihm gesagt, dass Eric Lombard unmittelbar nach seiner baldigen Rückkehr aus den Vereinigten Staaten mit den Ermittlern sprechen wollte. Servaz hätte beinahe seine Beherrschung verloren. Er hatte einen Mordfall am Hals; obwohl er durchaus herausfinden wollte, wer dieses Pferd getötet hatte, obwohl er befürchtete, diese Tat könnte nur das Vorspiel zu etwas Schlimmerem sein, konnte Eric Lombard nicht einfach über ihn verfügen.
»Ich weiß nicht, ob ich das schaffe«, hatte er kühl geantwortet. »Ich hab hier mit dem Tod des Obdachlosen alle Hände voll zu tun.«
»Sie sollten besser hingehen«, hatte d’Humières beharrt. »Offenbar hat Lombard mit der Justizministerin gesprochen, und die hat den Präsidenten des Landgerichts angerufen, der wiederum mich angerufen hat. Und ich rufe Sie an. Eine echte Kettenreaktion. Im Übrigen wird Ihnen Canter schon bald das Gleiche sagen; ich bin mir sicher, dass Lombard auch das Innenministerium verständigt hat. Im Übrigen dachte ich, Sie hätten die Mörder des Obdachlosen gefasst.«
»Wir haben eine Zeugenaussage, die auf eher wackligen Beinen steht«, räumte Servaz widerwillig ein, denn er wollte einstweilen nicht in die Einzelheiten gehen. »Und wir warten auf das Ergebnis der Spurenanalyse. Am Tatort gab es jede Menge Fingerabdrücke, Sohlenabdrücke, Blutspuren …«
»Nicht umsonst Steinbock, wie? Servaz, spielen Sie nicht den überforderten Polizisten, das kann ich nicht ausstehen. Ich werde Sie nicht anflehen. Tun Sie mir diesen Gefallen. Eric Lombard erwartet Sie gleich morgen in seinem Schloss in Saint-Martin. Er wird dort das Wochenende verbringen. Nehmen Sie sich die Zeit.«
»Na schön, aber sobald das Gespräch beendet ist, komme ich hierher zurück, um die Ermittlungen im Mord an dem Obdachlosen abzuschließen.«
Er hielt an einer Autobahn-Tankstelle, um zu tanken. Die Sonne schien, die Wolken waren weitergezogen. Er nutzte die Gelegenheit, um Irène Ziegler anzurufen. Sie sollte um neun Uhr auf dem Gestüt von Tarbes an der Obduktion des Pferdes teilnehmen. Sie schlug ihm vor, auch zu kommen. Servaz war einverstanden, sagte aber, er werde draußen auf sie warten.
»Wie Sie wollen«, antwortete sie ihm, ohne ihre Verwunderung zu verbergen.
Wie sollte er ihr erklären, dass er Angst vor Pferden hatte? Dass er es nicht über sich brächte, ein Gestüt zu durchqueren, wo es von diesen Tieren wimmelte? Sie nannte ihm den Namen eines Bistros in der Nähe, Avenue du Régiment-de-Bigorre. Dort würde sie sich mit ihm treffen, sobald sie fertig wären. Als er in Tarbes eintraf, strahlte die Stadt in fast frühlingshaftem Sonnenlicht. Die Hochhäuser standen mitten im Grün des beginnenden Nationalparks Pyrenäen; im Hintergrund erhob sich der natürliche Schutzwall des Gebirges in makellosem Weiß unter dem blauen Himmel. Nicht eine Wolke. Der Himmel war ungeheuer rein, und die funkelnden Gipfel sahen so leicht und duftig aus, als würden sie gleich wie Montgolfieren ins Azur abheben.
Es ist wie eine mentale Barriere,
sagte sich Servaz, als er sie sah. Man stößt
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