Schwarzer Schwan
laut, wie es in einer Disco zuging, konnte man den Klingelton leicht überhören.
Sie zog sich aus und ging zu Bett.
Zwanzig Minuten später hatte sie sich ein T-Shirt übergeworfen und stand mit dem Telefon in der Hand auf dem kleinen Balkon, der zur Straße ging, nach unten spähend, um Leonie nicht zu verpassen, falls sie aufkreuzte.
Britta meldete sich nach dem achten oder neunten Klingeln.
»Leonie ist noch nicht zu Hause! Dreiundzwanzig Uhr hatten wir vereinbart und …«
»Das sieht ihr eigentlich nicht ähnlich. Mit wem hat sie sich getroffen?«
Hanna nannte den Namen der Freundin.
»Kenne ich. Mit der Mutter war ich mal in einer Theatergruppe. Ich ruf sie an.«
Keine fünf Minuten später klingelte Hannas Handy. Sie suchte gerade die Straße vor dem Haus nach ihrem Fahrrad ab, das sie Leonie überlassen hatte. Statt des Fahrradschlüssels hätte sie ihr lieber Geld für ein Taxi geben sollen – Hanna machte sich Vorwürfe.
»Ja?«, meldete sie sich.
»Die Freundin war schon um halb elf zu Hause«, sagte Britta. »Und hat keine Ahnung, wo Leonie sein könnte. Sie wollte angeblich direkt zu dir fahren.«
Hanna lehnte sich gegen die Hauswand, die immer noch die Hitze des Tages abstrahlte. »Dann sollten wir schleunigst die Polizei …«
»Ach was«, unterbrach sie ihre Schwester. »Die nehmen das gar nicht ernst. Da wirst du auf den nächsten Tag vertröstet, denn die Tochter könnte ja mit irgendeinem Typen am Rheinufer sitzen und Händchen halten.«
»Mitten in der Nacht?«
»Erst wenn in deren Augen ein Verbrechen vorliegt, unternehmen die etwas.«
»Was wollen wir tun?«
»Du legst dich jetzt schlafen, Hanni. Hast sicher einen anstrengenden Arbeitstag hinter dir. Ich klingle ein paar Bekannte an. Vielleicht hat sich Leonie doch noch mit irgendjemandem getroffen.«
»Gib mir bitte sofort Bescheid, wenn du etwas weißt!«
»Versprochen.«
Dass Britta relativ zuversichtlich klang, beruhigte Hanna etwas. Vielleicht war es doch nicht das erste Mal, dass das Mädchen ausbüxte. Letztlich trifft mich keine Schuld, versuchte Hanna sich einzureden. Ich kann sie ja nicht einsperren.
Im Bett drehte sich Hanna von der einen auf die andere Seite. Ab und zu ein Blick auf den Wecker. Kein Laut von Leonie, keine Meldung ihrer Schwester.
Gegen drei Uhr stand Hanna erneut auf, suchte ihr Portemonnaie, kramte Dominiks Visitenkarte hervor und wählte seine Nummer.
Sein Handy weckte ihn, und er wusste sofort: So rasch würde er nicht wieder einschlafen können. Missgelaunt meldete er sich, dann erkannte er Hannas Stimme.
»Schön, dass du rangehst, Dominik. Tut mir leid, dass ich dich mitten …«
»Was ist los?«, beeilte er sich zu fragen.
Doch da war kein Stalker, der Hanna nach dem Leben trachtete. Bloß ihre Nichte, die abgehauen war. Dominik versuchte, sich an das Mädchen zu erinnern, das er auf einigen Observierungsfotos und durch die eigene Kameralinse gesehen hatte. Groß für ihr Alter, geschminkt, schmal, langes Haar – die hübschen Augen verwiesen zweifellos auf die Verwandtschaft mit ihrer Tante.
Mit dem Handy am Ohr ging er in die Küche, suchte sich etwas zum Schreiben und erkundigte sich nach Leonies Letztkontakt, ihrer Kleidung und möglichen Motiven, warum sie nicht nach Hause gekommen war.
Hanna erwähnte ein Fahrrad. Dominik fragte nach und notierte: Mountainbike, ungepflegt, schmaler Sattel, klapprige Schutzbleche. Schwarz lackierter Rahmen mit signalgrünen Streifen und irgendeiner Aufschrift.
Er redete Hanna zu, dass sie nichts tun könne, als endlich zu schlafen.
Nachdem sie aufgelegt hatten, malte er sich aus, dass das Mädchen beim Chatten im Internet irgendeinen Tünnes kennengelernt hatte. Sie glaubte, der Kerl verstünde sie besser als die Mutter, und hatte die S-Bahn zu ihm genommen, nach Köln oder ins Ruhrgebiet. Wer wusste schon, was seine Kinder wirklich trieben? Und mit fünfzehn pflegte man seine Geheimnisse – er selbst war nicht anders gewesen.
Aber er würde der Sache nachgehen. Hanna hatte äußerst besorgt geklungen.
Dominik rief die Altstadtwache an, gab die Beschreibung des Mädchens und des Fahrrads durch und bat die Kollegen, die Augen offen zu halten. Dann die Wache der Polizeiinspektion Süd, die für das Viertel zuständig war, in dem Hanna wohnte. Und schließlich die Kriminalwache, die nachts die Einsätze zu allen Tatorten im Stadtgebiet fuhr.
Ihm fiel ein, dass sich Jochen Urban noch heute Vorwürfe machte, nicht schnell genug auf das
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