Schwarzer Schwan
Verschwinden seiner Tochter reagiert zu haben. Dominik schnappte sich den Autoschlüssel und machte sich selbst auf die Suche.
Hanna lauschte in die Nacht. Durch das gekippte Fenster drang das leise Klappern des kleinen Windrads auf dem Nachbarbalkon, das tagsüber nie auffiel. Ab und zu rauschte ein Auto vorbei.
Der Kommissar hatte nicht verraten, was er unternehmen würde. Vermutlich nahm er Leonies Verschwinden so wenig ernst, wie Britta es vermutet hatte. Was konnte Dominik überhaupt ausrichten?
Irgendwann musste Hanna doch eingenickt sein, denn der Klingelton ihres Handys riss sie unsanft aus dem Schlaf. Es wurde bereits hell draußen, die Amseln in den Straßenbäumen sangen um die Wette. Hanna fühlte sich verkatert, ohne mehr getrunken zu haben als zwei Gläser Weißburgunder.
Sie tastete nach dem Handy und presste es gegen ihr Ohr.
»Leonie?«, fragte sie aufgeregt.
»Nein, ich bin’s, Dominik.«
»Und?« Hanna hielt den Atem an.
»Ich habe ein Fahrrad gefunden. Suitbertus-, Ecke Merkurstraße, also ganz in deiner Nähe. Die Beschreibung trifft zu. Der Lenker steht etwas schief.«
»Ein Unfall? Ich rufe gleich die Krankenhäuser an.«
»Habe ich schon gemacht.«
»Und?«
»Nichts. Kein Mädchen in Leonies Alter wurde heute Nacht wegen eines Unfalls eingeliefert. Weder in deiner Gegend noch in der gesamten übrigen Stadt.«
»Was machen wir jetzt?«
»Du legst dich wieder hin. Ich kümmere mich um die Sache.«
Hanna bedankte sich. Ihr ging durch den Kopf, dass das Fahrrad nicht mehr neu war und ein schiefer Lenker nichts bedeuten musste.
Ein rascher Rückruf bei Dominik. »Ich bin’s noch einmal. Was heißt, du hast das Fahrrad gefunden? Stand es angekettet an einer Straßenlampe, oder so?«
»Nein.«
»Sondern?«
»Es lag auf dem Bürgersteig.«
Hannas Wecker zeigte Viertel nach fünf. Seit gut sechs Stunden war Leonie jetzt überfällig.
35.
Ich habe Hunger.
Um mich abzulenken zähle ich die Glieder meiner Kette und komme auf einhundertdreiundvierzig. Die Schmerzen haben nachgelassen. Ich vermesse meine Zelle. Sechs Schritte sind es in der einen Richtung, vier in der anderen. Ich erreiche den Lichtschalter, wenn ich mich strecke – wenigstens bin ich die Herrin über Licht und Dunkelheit.
Doch gegen die Angst hilft das nicht …
Wenn ich nicht verhungere oder an Verletzungen sterbe, werde ich verschimmeln, denn unter der Pritsche ist der Zementboden ein einziger dunkler Fleck, feucht und bröckelig.
Ich male mir aus, wie ich das Dreckschwein fertigmache, sobald ich die Kette los bin.
Da – oben in der Decke kann ich ein Loch erkennen …
Dahinter surrt etwas ganz leise. Ein Ventilator vielleicht. Ich stelle mir einen Luftschacht vor, der irgendwo mündet, wo Leute vorbeikommen.
Ich schreie und schreie und schreie, bis mir der Hals wehtut.
Dann lausche ich – nichts zu hören, außer dem Surren im Loch und ab und zu das Brummen des Kühlschranks.
Wenn kein Laut hereindringt, dann geht auch keiner nach draußen. Niemand wird mich jemals finden.
Ich rücke die Pritsche beiseite, packe ein Kettenglied und beginne den bröseligen Zementboden zu bearbeiten. Mit der Kraft meiner angestauten Wut ritze ich meine Initialen.
LK was here.
Ich wünschte fast, ich wäre tot.
Teil III – Weiße Lilien
Teil III
Weiße Lilien
36.
Als Dominik Roth zum Dienstbeginn den Flur des KK 11 im ersten Stock betrat, hörte er lebhafte Stimmen aus Anna Winklers Büro.
Zwei Kollegen, die er nur vom Sehen kannte, waren bei ihr.
»Weitere Verstärkung?«, fragte Dominik und musste gähnen – zu wenig Schlaf in der letzten Nacht.
»Nein«, antwortete Anna. »Das Passwort ist entschlüsselt.«
Dominik bemerkte den Laptop auf Annas Schreibtisch. Das Gerät aus Patrick Neidels Hinterlassenschaft.
»Na endlich«, sagte Dominik. »Dann seid ihr die Computerfritzen aus dem KK 42?«
»Nein, KK 12.« Die beiden nannten ihre Namen, sie gaben sich die Hand. »Sachbearbeiter Kipo«, ergänzte der eine.
Dominiks Kehle wurde eng. Kipo stand für Kinderpornografie. Er räusperte sich und tippte auf den Laptop. »Ich hoffe, ich muss mir jetzt nicht anschauen, was da alles gespeichert ist.«
»Für Patrick Neidel muss das ein Volltreffer gewesen sein«, sagte Anna. »Bestes Erpressungspotenzial.«
Doch statt Geld gab es eine Kugel in den Kopf. Dominik spürte ein Kribbeln. Sie waren der Lösung des Falls nähergekommen. »Haben wir den Namen des Besitzers?«
Anna wedelte mit einem Zettel. »Und die
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