Schwarzer Schwan
nach Holland ans Meer. Oder sie besuchen Freunde, von denen die Eltern nichts wissen. Ich habe hier neunjährige Dauerläufer, die ich einmal pro Woche einfange. Allein am letzten Wochenende sind siebzehn Vermisstenfälle gemeldet worden. Leonie ist kein Kind mehr und noch nicht einmal vierundzwanzig Stunden weg.« Die Kollegin schüttelte ihre Kräusellocken. Ihr Blick sagte, dass dies ihr Schlusswort gewesen war.
Dominik folgte Hachmeister zurück ins Büro, bat um die Akte und ignorierte ihre verdrießliche Miene. Er las und machte sich Notizen.
»Leonie hat zu wenig Geld bei sich, um auf große Fahrt zu gehen«, hielt er der Kollegin vor.
»Behaupten Mutter und Tante. Wer sagt uns, dass das stimmt?«
»Auch ihre Freundin weiß nichts von geheimen Internetbekanntschaften oder einer parallelen Clique.«
Hachmeister zuckte mit den Schultern.
»Und das Fahrrad?«, fragte Dominik. »Das Mädchen war gestern Abend auf dem Weg zurück zur Tante, nicht auf der Flucht. So viel steht fest.«
»Was willst du von mir?«
»Einen Presseaufruf mit Foto. Vielleicht melden sich Zeugen. Und, dass du Faxe oder Mails an die Rheinbahn schickst. Und an die Taxizentralen. Die Fahrer sollen die Augen offen halten.«
»Unter einer Bedingung.«
»Und die wäre?«
»Dass du versprichst, mich ab sofort nicht mehr zu nerven.«
»Abgemacht.«
Er entnahm der Akte eines der Fotos, die Leonie zeigten. Die Mutter hatte klugerweise eine ganze Auswahl abgegeben.
»Was machst du da?«, beschwerte sich Hachmeister.
»Keine Angst, du kriegst das Bild wieder. Du machst deine Arbeit und ich tu, was ich tun kann.«
Im Paternoster ratterte Dominik ein weiteres Stockwerk nach oben. Das Geschäftszimmer seines Betrugskommissariats war verwaist, die Schreibkraft offenbar in der Mittagspause. Dominik ließ das Foto durch das Kopiergerät laufen, steckte das Original in einen Hauspostumschlag, den er an die Kollegin Hachmeister adressierte, und leerte sein eigenes Postfach – noch mehr Glücks-Oase , German Winner Action und Schutz-Fuchs.
In seinem Zimmer klemmte er sich hinter das Telefon.
Zwei Anrufe, die nichts Neues brachten: Die Krankentransportliste der Feuerwehr verzeichnete kein Mädchen, auf das Leonies Beschreibung zutraf. Das Verkehrskommissariat konnte ebenfalls nicht weiterhelfen. Dominik wählte die Nummer der Mutter.
In Britta Kauls Stimme mischten sich Panik und Aggression. Ein Lebenszeichen von Leonie gab es noch immer nicht. Die Mutter beschwerte sich über Susanne Hachmeister, die sie wie eine Verdächtige behandelt hätte. Als habe sie die eigene Tochter aus der Stadt vertrieben.
Dominik verspürte das Bedürfnis, seine Behörde in Schutz zu nehmen. »Möglicherweise sitzt Leonie auf dem Dachboden und will Ihnen nur einen Schreck einjagen.«
»Warum sollte sie das tun?«
»Dass Ihre Tochter sich mit Ihrem Freund nicht versteht, ist offenbar Fakt. Vielleicht hat sie es als Kränkung empfunden, dass sie für die Dauer Ihres Urlaubs bei Ihrer Schwester einquartiert wurde.«
»Im Gegenteil, Leonie wollte zu Hanna! Meine Schwester ist ihr großes Vorbild. Wenn hier jemand eifersüchtig sein kann, dann ich. Wissen Sie was, Herr Kommissar? Sie reden genau wie Ihre Kollegin. Ich habe auf dem Dachboden nachgesehen und im Keller. Seit heute Nacht telefoniere ich ununterbrochen mit Leonies Freunden und Bekannten, sogar mit Leuten, die sie seit ihrer Grundschulzeit nicht mehr gesehen hat. Ich bin völlig ratlos. Mindestens fünf Mal habe ich Leonie schon auf die Mailbox gesprochen. Sie hat ihr Handy sonst immer bei sich. Da stimmt doch etwas nicht! Und dann soll ich schuld daran sein, dass Leonie weg ist? Unverschämtheit!«
»Das habe ich nicht behauptet, Frau Kaul.«
Dominik ließ sich die Handynummer des Mädchens geben. Er musste mehrfach beteuern, dass die Polizei die Sache ernst nehme, bis Leonies Mutter sich halbwegs beruhigte.
Schließlich rief er Hanna an. Er erreichte sie in ihrem Büro.
Die Sorge um ihre Nichte ließ auch die Bankerin reden wie ein Wasserfall. Sie spekulierte über eine Entführung.
Was zu tun sei, wenn eine Lösegeldforderung einginge. Dass die Polizei sich dann zurückhalten müsse, um das Opfer nicht zu gefährden. Sie rätselte, ob das Verschwinden mit ihrer geheimnisvollen Observierung in Zusammenhang stünde. Möglicherweise auch mit dem Mord an Patrick Neidel und den tödlichen Schüssen auf die Frau am Aachener Platz.
Dann sagte sie: »Warte«, und unterbrach das Gespräch.
Dominik
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