Schwarzer Tanz
rieselnden Mörtels und der sich allmählich lösenden Kacheln kein weiteres Geräusch im Haus vernehmen. Das Haus war schmuddelig und hatte einige Reparaturen bitter nötig.
Einzig seine eigene, irrsinnige Schönheit und seine einundzwanzig Personen gaben ihm noch Halt.
Als sie aus dem Badezimmer kam, eilte eine alte Frau in einem mindestens sechs Jahrzehnte alten, braunen Kleid mit gesenktem Kopf vorüber. Sie schenkte Rachaela keinerlei Beachtung. Dann waren sie also doch nicht alle an ihr interessiert. Für manche stellte sie möglicherweise eine Bedrohung dar, ein neues, lackiertes Spielzeug, das ihnen vielleicht schaden konnte.
Sie kleidete sich an und betätigte die Klingel mit ihrem Zug aus fadenscheinigem blauem Samt, die Michael, Cheta, Maria oder Carlos herbeirufen würde. Es war Cheta, die sich in ihrem dunklen Gewand und ohne Brosche präsentierte.
» Womit kann ich Ihnen dienen, Miss Rachaela?«
» Ich möchte frühstücken«, sagte Rachaela, » was muss ich tun?«
» Ich werde Ihnen etwas bringen, Miss Rachaela. Sie können aber auch Ihr Frühstück zusammen mit Mister Peter und Mister Dorian einnehmen. Sie frühstücken gerade im Morgenzimmer.«
» Bringen Sie mir bitte etwas hierher.«
Es war ein Wunder, dass sie nicht mitten in der Nacht mit Messern und Gabeln bewaffnet über sie hergefallen waren. Toast wäre vielleicht noch im Bereich des Möglichen, aber nicht Kaffee. Die Familie trank keinen Kaffee. Dann eben Tee.
» Wie kommen Sie denn an den Tee?«, fragte Rachaela, » Sie bauen ihn doch bestimmt nicht selbst an?«
» Ein Lieferwagen aus der Stadt fährt die Ferienhäuser an. Carlo und ich kaufen die Lebensmittel dort.«
» Gibt es hier Ferienhäuser?«
Rachaela erspähte einen Hoffnungsschimmer am Horizont. Die Welt war also doch nicht so weit entfernt. Aber die Frau antwortete: » Sechs Meilen weit weg, Miss Rachaela. Es ist ein langer, rauer Weg, aber wir sind daran gewöhnt.«
Wenn es nicht völlig undenkbar gewesen wäre, hätten Chetas Augen Rachaela davon überzeugt, dass die Frau blind war. Sie waren dunkel wie die Augen sämtlicher Personen hier, blickten jedoch nicht klug und scharf, sondern schienen starr und verschleiert, Augen, die sich fast nie bewegten. Und doch marschierte Cheta in perfekter Präzision von einem Ort zum anderen. Zielstrebig manövrierte sie sich durch das durchbrochene, klebrige Licht der Fensterscheibe und verließ das Zimmer. Das Geräusch des Meeres kam und ging in diesem Haus, verschwand zwischen Mauernischen, hinter Möbelstücken oder langen Vorhängen. An anderen Stellen wiederum rauschte die See plötzlich laut, der Wellenschlag gegen die Felsen weit unten war klar zu hören. Vom Haus aus war das Meer nicht zu sehen. Nichts war vom Haus aus zu sehen. Jedes Fenster bestand aus dickem, hektisch bemaltem Glas.
Die Scheiben waren gemustert oder mit seltsamen Stillleben geschmückt: Früchte, Urnen und Blumenranken, die Himmel tiefrot, safrangelb, lachsfarben, grünlich und malvenfarben wie Giftefeu, himmelblau oder flammend rot.
Die Räume wurden von ihrem durchbrochenem Licht in Puzzleteile zerstückelt. Auf mehreren der größeren Fenster waren Bilder zu sehen. Rachaela erkannte unheimliche und scheinbar blasphemische Parodien auf die Bibel: zum Beispiel Kain, der von Abel ermordet wurde, nachdem er ihm Trauben und Weizen angeboten hatte, der erlegte Hirsch hing um Abels Jägerschultern, aus seinem Hals tropfte das Blut wie Karneol. Und weitere Karneole auf einem Fenster über der Treppe, auf dem ein Prinz bei einer Hochzeit den gelben Wein in rotes Blut verwandelte.
Rachaela verspürte kalte Belustigung über den schlechten Geschmack, den diese exzentrischen Szenen bewiesen, die wahrscheinlich dazu entworfen worden waren, die Familie bei ihrem Eintreffen in dieses Haus zu erfreuen.
Und doch sehnte sie sich nach einem winzigen Bruchstück, nur einem kleinen Splitter klaren, normalen Glases, durch das man hinaussehen konnte. Das Haus glich einer Schachtel, es war eine Kirche, völlig in sich abgeschlossen.
Die schrecklichen Farben bedrückten die Räume und verliehen ihnen ein mürrisches Aussehen. Edelsteine aus Feuer hingen mitten in der Luft, Regenbogen spiegelten sich in der dicken Staubschicht.
Im ganzen Haus war das Holz mit Schnitzereien verziert. Die alte Frau Anna hatte Rachaela angeboten, sich ganz wie zu Hause zu fühlen.
Da sie nichts Besseres zu tun hatte, lief Rachaela durch das Gebäude, verirrte sich in seinen
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