Schwarzer Tanz
die am Tisch saßen, Cheta und Michael, Alice und Sascha betrachteten sie über die glänzende Fläche des Tisches hinweg, auf der nur drei Gedecke lagen. Die Kerzen glühten und strahlten Wärme aus. Über ihnen, mit Glitzerpunkten reflektierten Lichts bedeckt, hing der Kristalllüster in verstümmelter Schönheit.
» Wie viele seid ihr eigentlich?« Rachaela versuchte die Panik in ihrer Stimme zu unterdrücken. Das Meer rauschte sehr laut in ihren Ohren. Stephan lachte. Sein Lachen war das männliche Gegenstück Annas.
» Viele, viele.«
Anna antwortete leise: » Wir sind jetzt einundzwanzig Personen.«
Stephan widersprach. » Du vergisst …«
» Nein«, sagte Anna. » Nein.«
Die tote Maus war von der Frisierkommode verschwunden, doch die Schleife war ordentlich zusammengelegt zurückgelassen worden.
Rachaela setzte sich und bürstete ihr Haar. Früher hatte das immer ihre Mutter getan. Sie war dabei grob und ungeschickt vorgegangen, da sie zu glauben schien, dass die dichte Üppigkeit des Haares jegliche Empfindlichkeit in den Wurzeln von vorneherein ausschließen würde.
Rachaela war ein verwirrtes Kind gewesen. Einmal war ihre Mähne aus Bequemlichkeit abgeschnitten worden. Rachaela hatte geweint. Sie war voller Hass gewesen, bis es wieder nachgewachsen war.
Das Haus brachte sie nicht dazu, an ihre Mutter zu denken. Sie verwendete diese brüske Erinnerung nur ganz kurz als Schutzschild, den sie zwischen sich und dieses Haus brachte. Die Scarabae. Auf der Treppe, als sie auf dem Weg in ihr Zimmer war, hatte sie einen weiteren alten Mann in grünlicher Jacke getroffen. Er hatte mit brennenden Augen in ihr Gesicht gestarrt.
» Ich bin Rachaela«, hatte sie sich vorgestellt. » Und du?«
Aber dieser alte Mann eilte davon, jedoch nicht aus Furcht vor ihr, sondern weil er nicht reden wollte. War es Peter, oder George, oder Sylvian aus der Bibliothek?
Was für eine Rolle spielte das schon? Sie waren alle eins, und einundzwanzig an der Zahl.
Im Schloss zu ihrer Tür steckte ein Schlüssel, und nachdem sie aus dem Bad zurückgekommen war, drehte sie ihn herum. Eine Vision überkam sie, natürlich von anderen Schlüsseln, die den Weg öffnen würden, und einer Truppe von ihnen, die in geräuschloser Prozession durch ihr Zimmer flanierte, um sie im Schlaf zu beobachten. Spinnwebartige, beringte Finger auf ihren Sachen, ihrem Kamm, ihrer Bürste, ihrem Puder und Spiegel; muffige Kleider, die vorüberraschelten, das Streifen des Ärmels eines alten Mannes …
Es war unmöglich, das Haus zu verlassen. Es gab keinen Weg. Außerdem war sie zum Bleiben verdammt. Sie hatte sonst nichts mehr. Auf der großen, weiten Welt gab es kein einziges Versteck, das ausreichen würde, sie vor ihren Augen verborgen zu halten. Denn sie wusste, dass sie zu ihnen gehörte. Es lag in ihrem Blut. Dieses sichere Bewusstsein machte sie schaudern.
Sie legte schließlich die Kleider ab und zog eines der beiden Nachthemden über, die sie nur für den Notfall aufgehoben hatte; normalerweise schlief sie nämlich nackt. Doch hier wollte sie auf den fadenscheinigen Schutz der handgewebten Seide nicht verzichten.
Das Nachthemd war schwarz. Sie betrachtete sich hinter dem Sumpf aus Lilien und dem flammenden Sonnenaufgang im Spiegel. In den unteren Räumen hatte sie zwei oder drei Spiegel entdeckt, deren Glas ebenfalls getönt und bemalt war. Als ob die Betrachtung des Ebenbildes auf ein Minimum hatte beschränkt werden sollen.
Ein leeres Bücherregal lehnte an der Wand. Um ihre Nerven zu beruhigen, hatte sie bereits ausgepackt und ihre Bücher hineingestellt. Sie betrachtete die vertrauten Buchrücken. Es waren ihre Bücher, ihre eigenen. Wie bedeutungslos ihre wenigen Besitztümer sich doch in dem Haus der Scarabae ausmachten. Wie bedeutungslos sie selbst war im Vergleich zu den Räumen und Korridoren, den Türen und Nebengebäuden und inneren Gemächern dieses dicht bebauten Ungetüms.
Einundzwanzig an der Zahl, krochen und schlichen die uralten Käfer schattenhaft um sie her. Sie jedoch stand allein, erdrückt von der Architektur und den ungewöhnlichen Formen.
Rachaela schlüpfte zwischen die sauberen, weißen Laken und lehnte sich gegen das saubere, weiße Kissen; jetzt hatte der Raum einen Rahmen aus flaschengrünem Samt. Das Feuer brannte niedrig.
Weit entfernt im Haus hörte sie das weiche Seufzen des Holzes, den leisen Atem seines verwitterten und lebendigen Herzens. Hinter dem Fenster mit dem Baum lag reglos die Winternacht.
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