Schwarzer Tanz
irgendetwas sagen konnte, was diese Leute auch nur im Entferntesten berühren würde, und doch würden sie sie alle wieder anstarren, zehn schwarze Augenpaare.
Anna und Stephan mussten so etwas wie ihre Anführer sein. Anna und Stephan drückten sich verständlich aus, oder jedenfalls beinahe, und hatten noch nicht ganz den Schein der zwischenmenschlichen Beziehungen abgeschüttelt.
Diese Leute hier waren wilde Wesen, die in einem Wald aus fleckigem Glas hausten. Sie kamen an den Bach, um zu trinken, aßen aufrecht sitzend Beeren und Kaninchen, starrten, überlegten, liefen davon oder verfolgten.
Hatte sie etwa einer von ihnen verfolgt?
Sie war nicht in der Lage, auch nur einem von ihnen eine Frage zu stellen. Würden sie überhaupt fähig sein, Fragen zu beantworten?
Warum bin ich so wichtig für euch? Ein gefürchteter Schatz, Nahrung für eure Gedanken?
Sie würden ihr antworten, wenn sie überhaupt etwas sagten, dass es ihre Bestimmung war, hier an diesem Ort zu sein. Sie war ein Teil von ihnen. Hier lag ihr Schicksal.
Aber tatsächlich stellte sie sich vor, wie sie ihre Frage mit ihren dürren Klauen zerpflückten, sie wie eine Lüge aussehen ließen. Sie waren so alt, dass gesellschaftliche Formen für sie keine Rolle mehr spielten.
Und auch Rachaela hatte sich nie viele Gedanken um Formen gemacht. Eigentlich war sie doch nicht so hungrig.
Die Alten pickten und schluckten, ließen ihre Teller saubergeleckt zurück. Sie reichten Früchte herum. Ihre Zähne waren, wie sie feststellen konnte, obschon ziemlich verfärbt, immer noch funktionstüchtig.
Sie lauschte dem Geräusch des Nagens und Schlürfens, dem Krachen von Rinden, dem Knacken und Reißen von Schalen, dem Prasseln von ausgespuckten Kernen.
Sie unterhielten sich noch nicht einmal untereinander. Selbst die alten Männer am Schachbrett waren ziemlich schweigsam gewesen.
Das Fenster stellte einen Drachen dar, der mit einem Einhorn kämpfte, doch das laute Rauschen des Meeres ließ vermuten, dass es eigentlich auf den Ozean hätte blicken müssen.
Michael und Cheta kamen mit zwei Teekannen herein, und eine Fülle von hauchdünnen, feinen Porzellantassen wurde aufgetragen. Rachaela blieb nicht zum Tee, und als sie den Raum verließ, blickten die Kreaturen des Waldes auf und starrten über sie hinweg.
Während der Tageszeit, die sie für den Nachmittag hielt, entdeckte Rachaela eine Kammer in den oberen Stockwerken, in der ein Klavier und eine Harfe ohne Saiten standen. Die Harfe war sehr groß und wunderschön und, ebenso wie das Klavier, von einer Staubschicht bedeckt. Seit Jahren hatte niemand mehr darauf gespielt. Rachaela fegte den Staub weg und berührte die Tasten. Die Töne klangen überraschend klar. Leider konnte sie nicht spielen. Sie war Zuhörer, nicht Schöpfer. In diesem Moment sehnte sie sich nach Musik und dachte an ihr Radio, das sie heute Morgen aus dem Koffer geholt hatte. Sie besaß nur eine Reservebatterie. Was, wenn sie aufgebraucht wäre? Im ganzen Haus hatte sie nichts Radioähnliches, geschweige denn einen Plattenspieler entdeckt.
Wie weit lag die Stadt entfernt? Gab es irgendein Transportmittel? Würden sie ihr gestatten, ein Auto zu mieten und in die Stadt zu fahren, oder war sie, als Mitinsassin des Hauses, nun ebenfalls eine Gefangene?
Sie fand auch die Bibliothek an diesem Nachmittag, ein monumentaler Raum mit hohen Bücherregalen an den Wänden, in dem alles, bis auf den runden Tisch, der vom ständigen Gebrauch glänzte, von einer dicken Staubschicht bedeckt war. Auf dem Tisch lag ein Stapel Bücher bereit, daneben ein ebenholzschwarzes Lineal, ein Tintenfass und ein Federhalter. Rachaela ging zu dem Bücherregal, nahm willkürlich einen der Bände heraus und entfernte vorsichtig die Staubschicht.
Nachdem sie es aufgeschlagen hatte, entdeckte sie, dass jede Zeile in dem Buch sorgfältig durchgestrichen war. Sie versuchte es mit einem anderen Buch – dasselbe Ergebnis. Wieder ein anderes, und noch eines, aus verschiedenen Teilen des Regals. Bei allen dasselbe.
Sylvian … in der Bibliothek beschäftigt.
Nichts konnte sie mehr überraschen. Sie gab dem verunstalteten Globus auf dem Tisch einen Stoß, verließ die Bibliothek und lief in die Richtung ihres Zimmers. An der Kreuzung zweier Korridore wählte sie den falschen Gang und kam an ein großes Fenster, auf dem ein Baby ganz offensichtlich zwischen Schilfhalmen ertränkt wurde. Darunter stand ein riesiges, ausgestopftes Pferd, irgendeines fremden
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