Schwarzer Tanz
Die See rauschte schwach.
Rachaela hörte alte Schritte ihren Korridor hinunterschlurfen. Dann plötzlich Absätze von Frauenschuhen, langsam und gemessen, sie hielten nicht an.
Der Reiter war nicht zurückgekehrt.
Wie sollte sie hier schlafen können?
Sie lag in ihren Kissen, ihr Körper zitterte vor Übermüdung. Um schlafen zu können, muss man vertrauen, sich vollkommen gehenlassen. In dieser Wiege würde sie wahrscheinlich noch Dutzende von Nächten wachliegen.
Rachaela hörte, wie eine Uhr Wände und Räume mit ihrem Glockenschlag überwand. Sie hatte mehrere Uhren gesehen, jede von ihnen zeigte eine andere Zeit.
Ich kann noch nicht einmal lesen. Sie hatte Angst, den Blick von dem Schlafzimmer, dem Kamin und der verschlossenen Tür zu lösen.
Gut, dann beobachte eben. Beobachte die ganze Nacht lang. Irgendwann würde der Schlaf sie schon übermannen. Sie musste an ihre Wohnung denken. Sie war nie ihr Eigen gewesen. Hatte nie existiert.
Der Katze hätte dieses Haus sicherlich gefallen. Sie wäre darin herumgetigert und hätte zart an seinen Türen gekratzt, um hinein- oder hinausgelassen zu werden. Sie würde hier schlafen können, zusammengerollt auf der indigoblauen Tagesdecke. Rachaela sah, wie die Katze lauernd das Erlöschen des Feuers beobachtete. Nein, sie musste wohl einen Moment lang geträumt haben. War also letztendlich doch noch eingeschlafen.
Sie war sicher. Diese Leute waren wahnsinnig, aber sie ebenfalls.
» Lass dich nicht mit ihnen ein«, sagte Rachaelas Mutter streng in einem längst vergangenen Raum ihrer Erinnerung.
» Nein, Mami«, sagte Rachaela.
Sie schloss die Augen und erblickte eine große, männliche Gestalt, gesichtslos, mit schwarzem Haar, zwischen Boden und Decke schwebend.
Rachaela schlief.
3
Ein unwahrscheinlich greller Farbenblitz.
Die Frau im Bett öffnete ihre Augen und stellte fest, dass sie lebendig ertrunken war. Es war das Fenster mit dem fleckigen Glas. Das Tageslicht drang jetzt durch die Scheiben und erfüllte das Zimmer mit buntem Leuchten. Rachaela bewegte sich, und eine Flut von Blutrot und Smaragdgrün glitt über ihren Körper, bemalte die Tagesdecke mit Schwarz und Scharlachrot und tauchte ihre Haut in bunte Farben.
Der Raum war in blendendem Licht gebadet. Ein Wahnsinn aus Grün und Rot, Magenta, Gold und Saphirblau. Die Stellen des Glases, die weiß glänzten, waren undurchsichtig und milchig. Hinter dem Fenster war nichts zu erkennen. Rachaela sah das Bild, das wie eine Erscheinung über ihr schwebte. Der Baum spaltete das Fenster in zwei Hälften, erhob sich zu einem Flechtwerk auf grünen Blättern und Ästen, an denen blutrote Äpfel hingen. Unter dem Baum verführte ein Mann in goldener Rüstung und riesigen Flügeln eine nackte Frau mit einer Frucht. Um den Apfel wand sich eine Schlange, wie eine Kette aus Juwelen. Hinter den Figuren leuchtete ein tiefblauer Himmel, und die Wege eines festlichen Gartens waren zu sehen, auf denen Tiere – eine Gazelle, ein Löwe, ein Einhorn – gelassen ruhten. Vom Himmel herab strahlte eine zornentbrannte Sonne.
Eva von Luzifer höchstpersönlich in Versuchung geführt? Es war geradezu betäubend, im Einfluss dieses Bildnisses zu erwachen. Der ganze Raum war in diesem Netz gefangen. Es strahlte keinen Frieden aus. Wieso hatten sie gerade diese Verführung der Eva für ihren Gast ausgewählt?
Oder hatte das Thema keinerlei Bedeutung? Die bemalten Fenster füllten das ganze Haus, sie hatte sie im Wohn- und Esszimmer bemerkt; draußen auf dem Flur markierte eines eine Ecke des Korridors.
Sie würde mit Eva und Luzifer leben müssen.
Die Uhr auf dem Nachttisch zeigte zehn. Die schwarze Uhr auf dem Sims behauptete, es wäre halb neun. Welche Uhrzeit stimmte, wusste sie nicht, und noch während sie darüber nachdachte, ertönte der Glockenschlag einer anderen Uhr, irgendwo im Haus. Sie zählte: fünf Schläge.
Rachaela stieg aus ihrem bunten Bett und ließ die Laken allein mit dieser Farbenflut. Luzifers Gesicht spiegelte sich auf ihrem Kissen in drohenden und exakten Linien, dieser gefallene Engel trug die blasse und unbefleckte Maske eines Heiligen.
Im Spiegel der Frisierkommode konnte sie inmitten der Lilien und dem Sonnenaufgang den Baum hinter sich erspähen. Sie war von Glas umgeben. Sie ging ins Badezimmer. Das Fenster dort bildete ein Meer aus Muscheln. Sie ließ Badewasser ein. Als sie badete und ihre Zähne putzte, konnte sie außer einem beständigen, leisen Ächzen, dem Flüstern des
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