Schwarzer Tanz
daran gefiel, das Erdrückende dieses Gefängnisses, schmeichelte selbst noch, als ihr Körper von den Windböen des echten Windes belebt wurde, ihrem Kunstverständnis und ihrem Intellekt. Sie würde dem Haus früher oder später erliegen, Anna hatte Recht gehabt. Warum dagegen ankämpfen?
Sie folgte dem Pfad in den schwarzen Kiefernwald hinein. Nadeln raschelten unter ihren Stiefeln. Die Erde war fuchsrot. Um einen Baumstumpf lagen noch mehr Federn verstreut; doch hier draußen, in dem wilden Wald, war das in Ordnung, wenn die Katze ihrem Mordtrieb nachgab.
Die Bäume wurden spärlicher, und die Landschaft veränderte sich. Die Kiefern endeten in einem kraftstrotzenden Finale am Rande einer weiten Graslandschaft, die mit einem Polster aus Heidekraut und Ginster bewachsen war. Unter ihr erstreckte sich das Meer, und nach oben sah man weit und breit nur Heideland. Weit entfernt erspähte sie kleine Buchten, grün umrandete Klüfte, von der Gischt aschgrau gefärbt.
Und zudem noch das Anschwellen des hügeligen Landes, blasses, mit Brauntönen durchwebtes Grün, ein seltsamer Baum, der plötzlich wie ein Mast aufragte, und ganz in der Nähe ein riesiger, schräger Felsbrocken, der einem abgestürzten Blitz ähnelte.
Rachaela ging auf den Fels zu. Er war so alt wie die Bäume, sehr wahrscheinlich sogar noch um einiges älter. Möglicherweise hatte er schon erlebt, wie die Römer an diesen Küsten landeten. Vielleicht waren sie an ihm vorübermarschiert, hatten ihn bewundert oder Gebete zu ihren eigenen Göttern vor ihm gemurmelt.
Kaninchen, die Gras knabberten, schossen davon, als sie sich ihnen näherte.
Der Fels war von einer schmutzig weißen Farbe und ziemlich kariös. Seine eigenartige, zackige Gestalt erinnerte an Legenden der Gewalt. Diese war hier jedoch ohne Bedeutung, ebenso wie die vorbeimarschierenden Römer.
Worte bedeuten nichts, hatte Sylvian gesagt.
Natürlich nicht, nichts war von Bedeutung. Nicht einmal das hier. Nicht einmal sie, Rachaela, die hier stand mit ihrer Kapuze aus schwarzem Haar, ihrem Londoner Mantel und ihrem weißen Gesicht, das immer noch das einer jungen Frau war; nicht einmal sie oder das, was aus ihr werden würde, spielte hier eine Rolle.
Sie würde sich mit deren Altersvirus infizieren. Sie würde uralt werden, hager und porös und zäh, genau wie sie. Vielleicht würde ihr Haar grau werden und ihre Brüste herabhängen wie verdorrte Pflaumen. Und auch ihre Zähne würde sie genau wie die anderen behalten. Bei den Scarabae gab es keine Anzeichen irgendeiner Knochenschwäche, keine Arthritis, kein Humpeln, keine Gicht. Der metallisch glänzende Schnee ihrer Haare war so dicht wie ihr eigenes. Ihre Augen wirkten sogar noch schärfer mit ihrem barbarischen Glanz.
Es war dumm sich zu fragen, was sie hier zu suchen hatte. Sie hatte sich in das Unvermeidliche gefügt.
Die nörgelnde Stimme ihrer Mutter, die sie niemals ganz zum Schweigen bringen konnte, warnte Rachaela immer noch vor den Scarabae, doch selbst diese Warnungen hatten sie, wie es schien, noch weiter in ihr Lager getrieben.
Ihre Furcht vor ihnen war dahingeschmolzen. Sie saß in der Falle.
Und wenn sie so alt war wie die Scarabae, was kam dann? Sie war nicht wie sie. Sie war die Außenseiterin. Das war ihr Sinn und Zweck.
Rachaela umrundete den Fels. Sie hatte seltsame Kratzwunden an den Stämmen mancher Kiefern gesehen, und in der Erde unter dem Fels befanden sich lange Krallenspuren, wie von einer Harke gezogen.
Würde sie von hier aus zum Dorf laufen können? Sechs oder sieben Meilen. Wie lange würde sie brauchen? – der Weg sah ziemlich uneben aus. Und sie wusste nicht, in welche Richtung sie gehen musste.
Eine düstere, schwärende Wolke war über den Horizont gekrochen und hatte die Sonne verdeckt. Schwarzes Licht verdunkelte die Heide. Sie würde zu dem Hügel laufen und von dort aus Ausschau halten. Dann würde sie müde sein, denn sie war das Wandern nicht gewohnt. Sie würde zurück zum Haus gehen, um zu essen, sich dann in ihr Zimmer zurückziehen und Musik hören. Morgen würde sie weiterlaufen.
Wie abgelegen diese Heide war. Niemand auf der Welt, nur sie und die Scarabae.
An diesem Abend trug Rachaela ihr grünes Kleid und eine Kette aus grünen Glasperlen, die sie auf einem Wohltätigkeitsbasar erstanden hatte.
Anna und Stephan saßen auf dem Sofa im Wohnzimmer und tranken bereits ihre seltsamen Aperitifs.
Rachaela nahm sich ein Glas Weißwein.
» Hast du den Spaziergang genossen?«,
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