Schwarzer Tanz
die Klippe gehauene Steintreppe verbarg.
Die Stufen waren glitschig und gefährlich. Rachaela stieg mit größter Vorsicht hinab. Doch Camillo huschte zielsicher und furchtlos vor ihr her wie ein Frettchen.
Weiter unten lag ein langgezogenes Strandstück mit kleiner Bucht, während auf der anderen Seite die See heranrauschte und sich gegen die steilen Felsklippen warf.
» Bei Ebbe«, erklärte Camillo mit Nachdruck, als gäbe er irgendeine heiß begehrte Information preis, » fängt Carlo Fische.«
» Ich dachte, der Kater fängt das ganze Essen.«
» Möwen, Kaninchen. Einmal hat er auch ein Rotkehlchen erwischt und wieder fliegen lassen. Ich habe es gesehen.«
» Mäuse«, sagte Rachaela.
» Hat dir die Maus gefallen? Sie war perfekt.«
» Ja, das war sie. Irgendjemand hat sie weggeschafft; Cheta oder Michael wahrscheinlich.«
» Hat sie bestimmt ins Gulasch geworfen«, Camillo stieß sein schrilles, wahnwitziges Kichern hervor, als hätte er es schon zu lange zurückgehalten.
Sie befanden sich im Tageslicht. Camillo schien das genauso wenig auszumachen wie der feine Nieselregen. Seine Haut glich dünnem Papier, die Knochen einem Rahmenwerk aus harten Zweigen. Er wirkte nicht zerbrechlich.
» Warum meidet die Familie das Tageslicht?«, fragte Rachaela.
» Es bekommt ihnen nicht gut.«
» Und dir?«
» Mir bekommt überhaupt nichts. Ich mag die Farben des Tages. Es gab eine Zeit, da konnte ich sie nicht ertragen. Ich erinnere mich noch an einen nächtlichen Ausritt, der in der Morgendämmerung endete. Ich habe die Hände vors Gesicht geschlagen und geweint.«
» An einem anderen Ort«, sagte sie.
» Weit weg.« Er sprach sehr schnell in irgendeiner fremden Sprache. Es konnte Russisch oder eine andere slawische Sprache sein. Er gackerte: » Ich sollte dir die Familiengeschichte nicht erzählen. In meinem Kopf herrscht ein solcher Wirrwarr. Ich erinnere mich an eine Kathedrale zu Heiligabend, und an einen Misthaufen, und zweihundert Frauen, und all die Hunde. Aber ich habe vergessen, wo und wann das war. Warum sollte ich mir darüber den Kopf zerbrechen? Es interessiert mich nicht. Nicht einmal du. Zuerst schon ein wenig. Aber du bist so berechenbar, Mädchen. Genau, wie ich es mir gedacht hatte. Wanderst herum in deinen schwarzen Kleidern, mit deiner weißen Haut. Du wirst auch weglaufen, aber du wirst zurückkommen. Du bist diejenige. Genau wie er.«
» Adamus.«
» Der Junge.«
» Ist er mein Vater?«
» Wenn er das sagt.« Er kauerte auf einem Fels wie ein Wasserspeier, und sein langes, weißes Haar wehte in dem feuchten Wind um sein Haupt. Die See hob und senkte sich in hoffnungslosem Zorn.
» Warum bin ich wichtig?«
» Ein Gen«, antwortete Camillo. » Wir alle tragen es in uns. Bei manchen tritt es zutage. Bei Adamus. Bei dir.«
» Was meinst du damit?« Sie verspürte Angst.
» Es gab noch andere«, erklärte er. » Aber die sind gestorben. Nur ihr beide seid übrig geblieben. Wir anderen hätten es auch gern gehabt. Prächtig und bösartig. Zuerst hat die Familie ihre schwarzen Schafe verbannt, dann hat sie sie gehütet. Die Familie weidet sich an ihren Gegensätzlichkeiten.«
Plötzlich sprang Camillo auf. Er vollführte einen kleinen Galopp, im Kreis auf dem Strand. Er benutzte eine Reitgerte, wieherte, und die Bucht hallte von dem menschlichen Pferdegeräusch wider. Der Irrsinn war sein Gewand, doch er hatte es so oft getragen, dass es ihn völlig aufsog. Die Maske war er geworden.
Rachaela wurde ungeduldig und wartete, dass der Pferdetanz endete. Doch ein Teil von ihr wollte mit ihm zusammen galoppieren. Sie hatte nie eine richtige Kindheit gehabt. Mit elf Jahren wurde ihr die einzige Puppe, die sie besaß – ein hartes, unbiegsames Geschöpf – weggenommen und zu einem örtlichen Wohltätigkeitsbasar gebracht. Dort sah Rachaela sie eine Woche lang im Schaufenster, dann kaufte sie jemand.
Camillo, das Seepferd, ruhte sich aus.
» Er muss zu dir kommen«, keuchte er, » oder du zu ihm. Es ist vorherbestimmt. Deshalb willst du zu ihm gehen, sein Mysterium durchbrechen.«
» Er hat mich im Schlaf beobachtet«, sagte Rachaela.
» Unverzeihlich«, meinte Camillo, dann, » ich werde dir den Weg in den Turm zeigen. Jeder von ihnen hätte das tun können, aber sie lieben das Spiel. Cheta, Maria, oder Michael hätten dich bringen können.«
» Ich habe geträumt, du hast den Schlüssel.«
» Eine junge Frau träumt von mir: Ich fühle mich geschmeichelt.«
Sie stiegen die
Weitere Kostenlose Bücher