Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schwarzer Tanz

Schwarzer Tanz

Titel: Schwarzer Tanz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanith Lee
Vom Netzwerk:
vergessen, Vergangenheit, Zukunft.
    Und draußen vor der Tür flohen winzige Kreaturen aus dem Treibholzherzen.

9
    » Wie viele Meilen nach Babylon?
    Sechzig und zehn.
    Komm ich hin im Kerzenschein?
    Ja, und zurück kannst du geh’n.«
    Eine Drossel oder irgendein anderer brauner Vogel antwortete ihr aus dem Gebüsch. Rachaela betrachtete ihn und lief dann weiter. Der Vogel trällerte noch einige Noten und flog dann davon.
    » Wie viele Meilen, wie viele Meilen?«
    Woher hatte sie nur diesen Reim? Jedenfalls nicht von ihrer Mutter, so viel stand fest. Sie erinnerte sich jetzt daran, weil er so passend war. Sie hatte Babylon besucht und war zurückgekehrt.
    Wie umsichtig von ihr, den neuen Pullover mit dem Rollkragen zu wählen. Er und ein kleines Pflaster verbargen das frevelhafteste Element ihres Besuches in Babylon. Es hatte aufgehört zu bluten, war schon versiegt, als sie erwachte. Er war gegangen. Doch ihr ganzer Körper, geschunden und schmerzend, als hätte er sie geschlagen, war das Zeichen seiner Realität.
    Sie war nicht beschämt, nicht verlegen. Nicht wütend, verwirrt oder glücklich. Sie war nichts. Leer. Er hatte sie ausgesaugt.
    Er musste die Überreste des Herzens entfernt haben; oder Michael oder Maria hatten sie weggeräumt, wie die Maus.
    Was fühle ich?
    Sie musste bestimmt etwas fühlen.
    Doch er hatte ihr Gefühl ausgetrunken, zusammen mit ihrem Blut. Die Heide leuchtete unter der launenhaften Sonne. Manchmal war sie von Strahlen der Dunkelheit umgeben.
    » Ja, und zurück kannst du geh’n.«
    Sie setzte sich auf einen Felsen. Von hier aus konnte sie das Haus sehen, hinter dem riesigen Stein, der aussah wie ein Blitz.
    Keine Kaninchen heute.
    Sie begann leise zu weinen. Also doch noch ein Gefühl.
    Die See donnerte.
    Die Heide schenkte ihr keine Beachtung.
    Tage- und nächtelang fiel der Regen, wusch all die Zeichen hinfort, die Krallenspuren des Katers in der Erde, die zarten, kleinen Blumen neben dem Pfad, die Spinnweben vor den Fenstern. Er löschte die Erinnerung. Denn das war alles, was die jüngste Vergangenheit geblieben war.
    Er war durch die Tür gekommen, hatte sich zu ihr gelegt, war ihr Liebhaber gewesen. Und zuvor hatte er sie aus der Welt nach Hause geholt, zurück in die Enklave der Scarabae.
    Die Türen des Turmes waren verschlossen. Sie hatte nach zwei Tagen Wartezeit daran gerüttelt. Sie hatte geklopft.
    Intuitiv wusste sie, dass Babylon nur für eine Nacht existiert hatte. Er hatte sie nur eine Nacht lang besitzen wollen. Falls er sie überhaupt je besitzen wollte. Es war der Akt, zu dem das Haus ihn zwang; eine Vollendung. Selbst ihr Blut reichte nicht aus, ihn anzulocken. Wenn er die Wahrheit gesagt hatte, war er dreißig Jahre lang ohne ausgekommen, ein Mönch.
    Sie wollte das Haus nicht mehr verlassen.
    In ihrem Leid klammerte sie sich daran. An seine fröhlichen Kamine, die Masken der Fenster. Sie konnte sich hier verstecken, vergraben, sich sicher fühlen. Keine Sorgen, kein Lebensunterhalt, den man verdienen, keine Menschen, mit denen man umgehen musste. Wie gefährlich das Haus war, eine riesige Wiege aus Stein, ausgelegt mit Watte, die sie umhüllten.
    Sie existierte mit dem Kaminfeuer und dem Radio, an den meisten Abenden begab sie sich nach unten, um mit Stephan und Anna zu › dinieren ‹ , und von Zeit zu Zeit erschienen auch andere. Sie kannte jetzt jeden von ihnen.
    Zum Strand war sie nicht mehr zurückgekehrt.
    Doch der Regen hatte auch den Strand reingewaschen.
    Sie waren alle gekommen und saßen um den Abendbrottisch. Alle, außer Camillo, der noch nie aufgetaucht war. Sechzehn Scarabae, und die vier, die sie bedienten.
    Es gab Wein zum Fisch.
    Daran, wenn sie es nicht schon vorher erraten hätte, erkannte sie, dass es sich um eine Feier handelte. Ihr Blut gefror zu Eis.
    Hin und wieder lächelten sie ihr zu. Ein kleines, beißendes Lächeln, ihre alten, starken Zähne. Dann spürte sie die Falle wieder. Es war keine Wiege, in der sie sich befand.
    Als sie wieder oben war, nahm sie ein weiteres heißes Bad, so heiß, dass ihr fast übel wurde.
    Sie machte die Turnübungen, die sie sich auferlegt hatte, auf dem Teppich vor dem Bett.
    Sie hätte mehr von dem Wein trinken sollen. Im Bett lag sie lange wach und stellte sich vor, er wäre nie gekommen, und ihr Leben wäre einfach weitergegangen, pendelnd zwischen dem Laden von Mister Gerard und der Wohnung. Für die Aufgabe der Wohnung würde es eine finanzielle Entschädigung geben.
    Sie hatte nichts

Weitere Kostenlose Bücher