Schwarzer Tod
er in seinem Labor in Oxford untersucht hatte? Wahrscheinlich. Aber was hatte sie dazu bewegt, ein derartiges Risiko einzugehen? Obwohl ihm sämtliche Fakten fehlten, war er fest davon überzeugt, daß Anna Kaas eine große Tragödie erlebt haben mußte, an der die Nazis schuld waren. Warum sonst sollte sie ihr Leben riskieren, um sie zu bekämpfen? Das taten nur sehr wenig Deutsche.
Ihr Zögern, mit dem sie auf General Smiths Plan reagiert hatte, hatte McConnell freudig überrascht. Die Aussicht, daß endlich etwas geschehen würde, mußte sie erregt haben, vor allem nach Monaten oder sogar Jahren, in denen sie ein Doppelleben geführt hatte. Und das immer unter der ständigen Bedrohung, entdeckt zu werden, und ohne irgendwelche Vorteile von den Risiken zu haben, die sie einging. Und jetzt, wo der glorreiche Tag endlich gekommen war, schien sie entsetzt darüber zu sein, was >London< als nötig erachtete. Bevor sie den Hof verlassen hatte, hatte sie McConnell angesehen. »Es ist seltsam, nicht wahr?« hatte sie gesagt. »Die Nazis behaupten, wir müßten die Juden töten, um die Deutschen zu retten. Ihr Brigadegeneral Smith behauptet, Sie müßten die Juden töten, um die Juden zu retten. Ich frage mich ... ob einer dieser Männer sich bemüht, einzelne Individuen zu retten.« Das war eine Vereinfachung, gewiß, aber sie hatte trotzdem genau den Punkt getroffen. Vielleicht konnten sie gemeinsam Stern davon abhalten, die Gefangenen zu töten.
Vielleicht gelang es ihnen ja, einen Kompromiß zu finden.
McConnell umklammerte die Armlehne des Sofas. Jemand machte da oben Geräusche. Er hörte einen Schrei und dann Stimmen. Er tastete auf dem Sofa herum, bis er den Klappstutzen der Schmeisser gefunden hatte. McConnell hätte nie gedacht, daß er diese Waffe je würde benutzen müssen; aber wenn SS-Männer ihn holen wollten ...
Ein Lichtstrahl durchbrach die Dunkelheit.
McConnell richtete die Maschinenpistole auf den obersten Treppenabsatz.
»Sind Sie da unten?«
Eine weibliche Stimme. Annas Stimme. Aber sie war nicht allein.
»Kommen Sie rauf, Doktor!«
Stern.
McConnell atmete erleichtert aus. Er hielt die Schmeisser in der Hand und stieg die Treppe zur Küche hoch. Oben sah er gerade noch, wie Anna sich einen Wodka einschenkte und ihn in einem Schluck hinunterkippte. Mit zitternden Händen goß sie sich ein zweites Glas ein.
»Was ist los?« erkundigte sich McConnell. »Was ist passiert?«
»Ich habe ihr Angst eingejagt«, erklärte Stern und lehnte sich gegen die Flurtür. »Ich habe schon vorher versucht hereinzukommen, aber Sie sind nicht an die Tür gegangen. Einbrechen wollte ich auch nicht, weil ich dachte, daß Sie mich dann vielleicht erschießen würden. Also habe ich auf Anna gewartet und habe sie hineingestoßen, nachdem sie die Tür aufgeschlossen hatte.«
»Wo waren Sie den ganzen Tag?«
Stern ging zu Anna und nahm einen Schluck aus der Flasche. »In Rostock«, erwiderte er und wischte sich den Mund ab.
Anna rammte das Glas mit lautem Knall auf den Tisch. »Sie sind verrückt! Warum sind Sie dorthin gegangen?«
Stern trank noch einen Schluck Wodka. »Es war zu windig, um den Angriff durchzuführen. Außerdem wußte ich, daß wir die Küste niemals erreicht hätten, wenn ein Alarm ausgelöst worden wäre. Jedenfalls nicht bei Tage.«
»Aber wie sind Sie nach Rostock gekommen?«
»Ich habe im Dorf einen Wagen gestohlen.«
Anna schüttelte den Kopf. »Sie sind verrückt!«
»Ich habe ihn seinem Besitzer ja zurückgebracht«, sagte Stern gelassen. »Aber das ist nicht weiter wichtig. Als Sie hergekommen sind, haben Sie ihr Fahrrad einfach fallen lassen und sind zur Haustür gelaufen. Sie hatten schon Angst, bevor Sie mich gesehen haben. Weshalb?«
Anna wandte den Blick ab und trank. »Sie haben gestern abend recht gehabt«, antwortete sie. »Totenhausen muß zerstört werden, ganz gleich, was es kostet. Es ist ein Greuel.«
McConnell sah sie verwirrt an.
»Erzählen Sie mir, was passiert ist«, forderte Stern sie auf.
Anna wich unwillkürlich vor Sterns eindringlichem Blick zurück. »Heute gab es Tote.«
»Ist das ungewöhnlich?«
»Nur insofern, als eine Gefangene einen SS-Mann getötet hat.«
»Was?«
»Es war die Blocksprecherin der jüdischen Frauenbaracke. Sie hat einen Rottenführer mit einem Gartenspaten in den Hals gestochen. Er war der grausamste Kerl im ganzen Lager.«
»Warum hat sie das getan?«
»Der Wächter wollte eine andere Gefangene totschlagen. Eine Jüdin aus
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