Schwarzer Tod
Amsterdam.«
Stern schüttelte wütend den Kopf. »Diese Blocksprecherin war also auch eine Jüdin?«
»Nein, aber sie und die Jüdin waren Freundinnen.«
»Ist die Jüdin gestorben?«
»Nein. Ich habe sie weggebracht und zu ihrer Baracke zurückgeschickt.« Anna drehte sich halb um und blickte zu Boden, während sie weitersprach, als würde sie gezwungen, ein schreckliches Familiengeheimnis preiszugeben.
»Hauptscharführer Sturm ist Amok gelaufen, als er sah, daß sein Mann tatsächlich tot war. Da Brandt und Schörner fort waren, war er der ranghöchste SS-Mann im Lager. Er hat sofortige Vergeltungsmaßnahmen angeordnet. Zwei Frauen wurden an den Bestrafungsbaum gehängt, und acht weitere sofort erschossen. Insgesamt wurden zehn Leute ermordet.«
Stern packte sie an der Schulter und drehte sie herum. »Juden?«
»Nein.« Anna sprach so leise, daß sie kaum zu verstehen war. »Polnische Christen.« Sie schob sich an Stern vorbei zum Tisch. Ihre Hand verkrampfte sich um das Glas. »Wenn Schörner nicht aus Peenemünde zurückgekommen wäre, hätten Sturm und seine Männer möglicherweise das ganze Lager ausgelöscht.«
»Hat Sturmbannführer Schörner Recht und Ordnung wiederhergestellt?«
»Mehr als das. Er hat Sturm in seinem Quartier unter Arrest gestellt. Dieser Mann hat wirklich Nerven.«
»Aber warum hat er das getan?«
»Ich glaube, es ist etwas Persönliches zwischen ihm und Sturm. Es hat etwas mit der Frau zu tun.«
»Die Frau, die den SS-Mann getötet hat?«
»Nein, die Jüdin, die zusammengeschlagen wurde. Ich glaube, daß Schörner ihr eine sexuelle Vereinbarung aufgezwungen hat.«
Stern warf McConnell einen bedeutungsvollen Blick zu, als wollte er sagen: Sehen Sie jetzt, wozu diese Nazischweine fähig sind! »Und hat der Hauptscharführer diese >sexuelle Vereinbarung< mißbilligt?«
»Ich glaube nicht, daß ihn das interessiert«, antwortete Anna. »Zwischen ihm und Schörner ist etwas anderes. Sturm haßt ihn wirklich.«
»Was ist denn das für ein verrücktes Lager? Herrscht dort keine Disziplin?«
Anna schüttelte langsam den Kopf, und ihre Augen glänzten feucht. »Es ist schlimmer, als Sie es sich vorstellen können. Herr Doktor Brandt hat das Kommando. Technisch gesehen ist er SS-Gruppenführer, aber er besitzt weder eine militärische noch eine polizeiliche Ausbildung. Angeblich ist er ein persönlicher Freund Himmlers. Und es gibt noch drei andere SS-Doktoren, zwei Untersturmführer und einen Sturmbannführer, die das Offizierskorps vervollständigen. Sturmbannführer Schörner ist der Sicherheitschef. Ihm unterstehen Hauptscharführer Sturm und seine Leute.«
»Keine Offiziere der mittleren Ränge?«
Anna schüttelte den Kopf. »Brandt zieht es so vor. Er will Ärzte um sich haben, keine Soldaten.«
Schließlich trat Stern von ihr zurück und begann, den Tisch zu umkreisen. McConnell setzte sich hin, damit er ihm nicht ständig aus dem Weg gehen mußte.
»Was würde geschehen, wenn ich das Lager jetzt angreifen würde?« fragte Stern.
»Dasselbe wie gestern nacht«, erwiderte Anna erschöpft. »Sie würden die Hälfte der SS-Garnison verfehlen, weil Schörner sie nach den Fallschirmspringern suchen läßt; aber dafür würden Sie alle Gefangenen töten. Außerdem habe ich über den Wind nachgedacht. Im Lager weht er noch viel stärker als auf dieser Seite der Hügel. Er kommt den Fluß herunter.«
Stern knurrte frustriert.
»Und darüber hinaus war Brandt noch nicht aus Berlin zurückgekehrt, als ich gegangen bin.«
»Verdammt! Kommt er denn heute noch?«
»Wahrscheinlich, aber es könnte ziemlich spät werden.« Anna stand auf und trat an die Spüle. Dort ließ sie kaltes Wasser über einen Lappen laufen und drückte ihn sich aufs Gesicht. »Das ganze Lager ist verrückt geworden«, sagte sie durch den Stoff hindurch. »Himmlers Besuch hat all das ausgelöst. In der Nacht danach haben Sturm und seine Leute sechs Frauen vergewaltigt und ermordet, die man ihnen aus Ravensbrück zugeführt hatte. Schörner war die ganze Zeit über betrunken. Jetzt jedoch ist er wachsam wie ein Falke. Es scheint, als hätte ihn jemand aus einem tiefen Schlaf geweckt. Und Brandt, der die Kinder mißbraucht ... Es ist der reine Wahnsinn, das kann ich Ihnen sagen. Wie das Ende der Welt.«
»Was ist mit den Kindern?« erkundigte sich McConnell.
Anna legte den Lappen ins Becken und drehte sich zu ihm um. »Brandt macht Experimente mit Kindern. Er nennt es medizinische Forschung, aber es
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