Schwarzer Tod
sich auf. »Er redet wirr. Ich glaube, er hat eine Gehirnerschütterung.«
Sie beugte sich wieder hinunter und tat, als untersuche sie Miklos' Augen.
»Die Gestapo kommt«, sagte der Pole. »Sie sind noch schlimmer als die SS. Sie benutzen Strom.«
»Ich kann es nicht tun.«
Plötzlich blickte Miklos sie mit einem derartigen Flehen in den Augen an, wie Anna es noch nie zuvor bei jemandem gesehen hatte. »Ich bin so gut wie tot«, flüsterte er. »Nichts kann das verhindern. Aber wenn du nicht tust, was ich sage, dann werden du und deine Freunde auch sterben.«
Anna bekam eine Gänsehaut. Was Miklos sagte, stimmte. Wenn er redete, würden sie alle sterben. Sie würden gefoltert werden. Wie lange würde sie ihr Schweigen wohl aufrechterhalten können, wenn Sturm mit ihr tun durfte, was er wollte? Und wenn sie diese Qualen überstand, dann drohte da noch das Frauenlager in Ravensbrück ...
Anna öffnete den Arztkoffer und überflog die fein säuberlich aufgereihten Ampullen und gläsernen Spritzen in ihren passenden Schlingen neben den elastischen Bändern. Antiseptika, lokale Anästetika, Insulin ... Was war die Antwort? Nein, es würde eine massive Dosis erfordern, Miklos zu töten, und wenn sein Blutzucker fiel, würde er Krämpfe bekommen, die den Wächter alarmieren würden. Da ...
Anna griff in die Tasche und betrachtete die Phiole auf ihrer Handfläche. Es war Morphium. Dann bückte sie sich und legte den Kopf auf Miklos Wojiks Brust, als würde sie seinen Herzschlag überprüfen.
»Wache!« rief sie. »Dieser Mann hat starkes Herzklopfen!«
»Ich rufe einen Arzt!« bot der SS-Mann an und ging zum Telefon, das Schörner benutzt hatte.
»Nein, ich brauche sofort Adrenalin! Laufen Sie zur Medikamentenkammer und holen Sie welches!«
Der Wachtposten wirkte beunruhigt. »Ich darf meinen Posten nicht verlassen!«
»Ohne Adrenalin wird er sterben!«
Der SS-Mann nickte. »Ich bin gleich wieder da.«
Anna nahm eine 10cm 3 -Spritze und zog sechs cm 3 Morphium in die Kammer. Sie hatte keine Zeit, erst noch den Arm abzubinden, damit eine Vene hervortrat, und sie konnte auch keine oberflächlichen Adern benutzen, wo ein Einstich deutlich zu erkennen gewesen wäre. Sie ließ ihren Blick über den nackten Körper des Polen gleiten. Miklos' Lendengegend war stark verletzt, genauso wie die seines Bruders. Unter einer dieser Prellungen verlief unter den Leistenbändern die Oberschenkelarterie. Es erforderte zwar Erfahrung, diese tiefe Ader blindlings zu treffen, aber Anna war schon dutzendemal gezwungen gewesen, die Arterie zu benutzen, wenn sie nicht in der Lage gewesen war, an ausgemergelten Gefangenen andere Adern zu finden. Sie preßte zwei Finger ihrer linken Hand in die Stelle zwischen Miklos Penis und Hüftknochen. Miklos stöhnte, als sie die verletzte Stelle zusammendrückte, aber Anna spürte sofort den deutlichen Puls unter ihren Fingerspitzen.
Sie sah zur Treppe, setzte die Spritze direkt unter ihren Fingern an und durchbohrte die Haut und das Fleisch. Als sie den Kolben zurückzog, sprudelte dunkles Blut hinein. Sie sprach ein Stoßgebet, schloß die Augen und injizierte den gesamten Inhalt der Spritze in die Ader.
Miklos hob den Kopf, als sie die Nadel herauszog. »Hast du ... «
Anna hatte ihm seit ihrer Entscheidung nicht mehr in die Augen gesehen. Jetzt tat sie es.
Sie waren geschlossen. »Boze«, murmelte Miklos. »Gott segne dich, Anna. Wie lange dauert es?«
»Es geht schnell. Möge Gott mir diese schreckliche Tat vergeben.«
Miklos öffnete die Augen. Sie waren braun und sehr groß. »Ich vergebe dir«, sagte er nachdrücklich. »Ich vergebe dir jetzt persönlich! Gott hat dich zu mir geschickt, Anna. Du bist sein Engel, und du weißt es nicht einmal. Ich nehme an, so ist das immer.«
Polternd stürmte der SS-Mann mit dem Adrenalin herein und gab es Anna. »Lebt er noch?«
»Ja. Danke. Ich glaube, es war nur eine Panikattacke. Aber sein Herz ist schwach.«
»Er hat auch allen Grund, panisch zu sein«, murmelte der Wachsoldat.
Miklos schloß die Augen, damit er den SS-Mann nicht ansehen mußte. Anna stand steif neben ihm, während sein Atem langsamer wurde. Nachdem der SS-Mann wieder seinen Posten bezogen hatte, trat sie um den Tisch und hielt die Hand des jungen Polen. Miklos drückte sie schwach. Nach zwei Minuten fiel er in ein Koma. Anna hielt seine Hand noch eine Minute fest, um sicher zu sein; dann ließ sie los. Mehr ertrug sie nicht.
»Er schläft«, sagte sie zu dem Posten.
Weitere Kostenlose Bücher