Schwarzer Tod
Tagebuch hinter den Kontobüchern hervor und warf es Stern zu. »Das weiß ich. Sie sollten es gelegentlich mal lesen. Vielleicht dreht sich sogar Ihnen dabei der Magen um, auch wenn Sie allen weismachen wollen, daß das unmöglich ist.«
Stern blickte auf das Tagebuch in seiner Hand. »Oh, das ist sehr gut möglich. Und ich weiß ebenfalls genau, wozu diese Mistkerle fähig sind. Sie lassen seit zehn Jahren ihre Perversitäten an meinem Volk aus, schon vergessen?«
McConnell hockte sich hin und starrte zu Boden. »Glauben Sie, daß sie die Leichen gefunden haben? Oder sogar die Kanister?«
»Die Leichen nicht. Nicht so schnell.«
»Vielleicht sollten wir lieber auf dem Hügel warten«, sagte McConnell. »Wenn es so aussieht, als wäre das Spiel aus, könnten Sie immer noch die Kanister ins Lager schicken.«
Stern öffnete schon den Mund, um etwas darauf zu erwidern, schwieg aber McConnells Vorschlag hing wie eine Herausforderung in der Luft.
»Ich meine, wenn Schörner schon hinter uns her ist«, fuhr McConnell fort, »wäre das unsere einzige Chance, diesen Auftrag durchzuführen.«
»Wollen Sie mir damit etwa sagen, daß Sie jetzt bereit wären, die Gefangenen zu töten?« fragte Stern.
»Was können wir sonst tun?«
»Vergessen Sie es, Doktor. Wir werden hier warten.«
»Und wenn sie uns holen kommen?«
»Wenn sie kommen, halte ich sie solange auf, wie es geht. Sie werden versuchen, an ihnen vorbei zum Hügel zu gelangen. Die Kletterausrüstung ist in meinem Seesack. Sie können das Gas selbst hinunterschicken.«
Stern sah aus, als glaube er tatsächlich, was er sagte, aber McConnell wußte es besser. Wenn die SS wirklich hinter ihnen her war, konnte er niemals die Gaskanister erreichen. Er würde es vermutlich nicht einmal aus dem Haus schaffen. Stern mußte das wissen. Was also hielt ihn davon ab, auf den Hügel zu gehen, um in der Lage zu sein, im Notfall die Kanister loszulassen?
Etwas im Blick des jungen Juden hielt McConnell davon ab, ihn danach zu fragen.
Das Haupttor von Totenhausen stand weit offen, als das Motorrad mit Anna Kaas das Lager erreichte. Der SS-Mann fegte über den Exerzier- und Appellplatz und kam rutschend vor dem Krankenhaus zum Stehen.
»Sie warten im Keller«, sagte er. »In der Leichenhalle.«
Anna stieg aus dem Beiwagen und ging die Stufen zum Eingang hoch. Das Treppenhaus innen lag auf der linken Seite. Zwei Treppen führten nach oben, eine nach unten. Anna ging durch die Tür und nach unten.
Beim Entwurf des Krankenhauses von Totenhausen hatte Klaus Brandt vor allem auf die Leichenhalle viel Wert gelegt, denn in diesem Raum arbeitete er sehr viel. Hier analysierte er die pathologischen Effekte seiner Gase sowie der Meningococcus-Bakterien. Vier Autopsie-Tische standen in der Mitte des Raums, der von einer spiegelähnlichen Wand beherrscht wurde, in der einige rostfreie Stahlschubladen eingelassen waren. Jede konnte zwei ausgewachsene oder vier Kinderleichen aufnehmen.
Anna besaß einen starken Magen, aber sie wäre beinahe in Ohnmacht gefallen, als sie den Fuß der Treppe erreichte. Der Autopsie-Tisch neben ihr war leer, aber auf dem zweiten lag ein nackter Mann, den sie augenblicklich selbst aus dieser Entfernung als Stan Wojik erkannte. Der schwarze Bart des Polen war blutverschmiert, sein übel zugerichteter Kopf geschwollen und sein gewaltiger Körper mit Schnitten und Prellungen übersät. Jonas Sterns Vorhersage hatte sich bewahrheitet. Anna hatte genug Leichen gesehen und wußte, daß Stan Wojik tot war.
»Kommen Sie herein, Schwester«, rief eine Stimme von der anderen Seite des Raumes.
Sturmbannführer Wolfgang Schörner trat hinter einem Metallregal hervor. Er hielt ein Telefon in der linken Hand und sprach in den Hörer, den er mit der rechten hielt. Er winkte Anna weiter ins Zimmer.
»Das ist richtig, Doktor«, sagte er. »Zwei von Sturms Leuten werden vermißt. Sie sind nicht von ihrer Patrouille zurückgekehrt. Natürlich könnten sie auch betrunken in einer Dorfschänke liegen, aber diesmal bezweifle ich das.«
Anna wußte, daß sie versuchen sollte, dem Gespräch zu folgen. Aber das war nicht einfach. Ihr Blick wurde wie magisch vom dritten Autopsie-Tisch angezogen. Sieh noch nicht hin! sagte sie sich. Du kannst es noch nicht aushallen. Sie zwang sich dazu, Schörner zu beobachten. Er ging hin und her und trug das Telefon mit der langen Schnur mit sich herum.
»Beck glaubt immer noch, daß das Ziel Peenemünde ist«, sagte er gerade. »Aber da
Weitere Kostenlose Bücher