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Schwarzer Tod

Titel: Schwarzer Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Iles
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stöhnte leise. Avram hörte ein schwaches, verängstigtes Stimmchen aus dem Bündel. Rachel beruhigte das Kind auf holländisch, dann wechselte sie wieder ins Deutsche. »Was sollen wir machen, Schuhmacher? Ich kann die Kinder nicht hinüberbringen, solange der Posten am Tor steht. Er wird uns sicher sehen und Alarm auslösen.«
    »Gehen Sie wieder hinein.«
    »Aber das Gas kommt bald!«
    »Bereiten Sie sich darauf vor, schnell zu reagieren. Ich bin in einer Minute wieder da und hole Sie. Wenn ich nicht komme, sind Sie auf sich allein gestellt. Tun Sie, was Sie für das Beste halten.«
    Rachel packte seinen Arm durch die Torstäbe hindurch. »Wenn Sie Ihren Sohn irgendwo sehen, sagen Sie ihm, daß er kommen und Hannah holen soll. Ich flehe Sie an, Herr Stern!«
    »Ich werde es ihm sagen.«
    Avram legte den Sicherungshebel der Schmeisser um und ging zum hinteren Tor.
    Jonas Stern versuchte, bei Bewußtsein zu bleiben, während Hauptscharführer Sturm sich an ihm austobte. Der Mann verstand wirklich etwas von seinem Handwerk. Er zeigte Begeisterung, was wichtig war. Körperliche Folter ist eine ermüdende Angelegenheit. Die Schläge gegen den Kopf waren das Schlimmste. Sterns Ohren klingelten so laut, daß er kaum denken konnte. Er hätte gern der Ohnmacht nachgegeben, aber er zwang sich wachzubleiben. Er hatte nur einen einzigen Vorteil gegenüber seinem Folterer. Er wußte genau, was mit dem Lager To tenhausen passieren würde. Und vielleicht, aber nur vielleicht, war er körperlich noch in der Lage, zum Haupttor zu laufen, wenn der Plastiksprengstoff explodierte, den er um die Kanisterköpfe gelegt hatte. Doch dazu mußte er bei Bewußtsein sein. Das war nicht einfach, wenn jemand versuchte, einem das Hirn zu Brei zu schlagen. Stern war beinahe dankbar, als Hauptscharführer Sturm zum Messer griff.
    Avram Stern hatte seit 1918 kein menschliches Wesen mehr getötet, aber er nahm sich nicht die Zeit, um lange darüber nachzudenken. Als er sich durch den Schnee auf den Wachsoldaten zubewegte, fragte er sich, wie laut der Knall der Schmeisser wohl sein würde. Als Veteran des Großen Krieges konnte er kaum glauben, daß irgend etwas den Knall eines Maschinengewehrs dämpfen konnte.
    Er beschloß, den Dolch zu nehmen.
    Avram versuchte, selbstsicher und überheblich zu gehen, und wiegte sich ein bißchen hin und her wie die SS-Wachen es taten. Er konzentrierte sich auf den Rücken des Wachsoldaten. Der Mann stand unmittelbar am Tor und blickte auf die Bäume. Avram überlegte, ob er leise rufen sollte, um ihn nicht zu erschrecken; aber der Mann schien ihn gar nicht zu bemerken. Avram sah auf den silbrig glänzenden Dolch in seiner Hand. Es würde einen mächtigen Stoß erfordern, den Mantel und die Winteruniformjacke zu durchdringen. Jonas war sehr geschickt darin gewesen, dem anderen Posten die Kehle durchzuschneiden, aber Avram war in so etwas nicht ausgebildet. Kurz wünschte er sich ein Bajonett, wie er es im Großen Krieg gehabt hatte, oder noch besser einen vertrauenswürdigen, geschärften Spaten, die erste Wahl bei Grabenkämpfen.
    Aber das hier war ein anderer Krieg.
    »Kamerad?« rief er mit überraschend natürlich klingender Stimme. »Hast du mal ein Streichholz?«
    Der Posten erschrak, aber als er die vertraute Uniform sah, entspannte er sich und griff in den Mantel. »Ich könnte auch gut eine Zigarette vertragen«, sagte er und lachte nervös. »Dieser Mistkerl vom Sicherheitsdienst hat mich zu Tode erschreckt.«
    Als das Streichholz aufflackerte, betrachtete der Posten Avrams Gesicht. Es folgte ein Moment des gegenseitigen Erkennens. Avram Stern sah einen Jungen vor sich, dem er ein paar Pantoffeln für seine Freundin gemacht hatte. Der Posten sah das Gesicht des Schuhmachers.
    Avrams Arm schien von Wut angetrieben, als er den Dolch durch die weiche Haut unterm Kinn des Wachtpostens trieb. Dann spürte er einen plötzlichen Stoß im Handgelenk. Die Spitze des Dolchs war sauber durch Gaumen, Stirnhöhlen und Gehirn gedrungen und gegen die Schädeldecke des Postens gestoßen. Das Heft des Dolches war noch immer drei Zentimeter vom Kiefer des Jungen entfernt. Avram sah direkt in die erstaunten blauen Augen, riß den Griff des Dolches einmal nach links und ließ den Leichnam dann in den Schnee fallen.
    Anschließend versuchte er, den Dolch aus dem Kopf des SS-Mannes zu ziehen, doch das überstieg seine Kräfte. Er setzte den Jungen aufrecht gegen den Zaun, als wäre er während seines Dienstes eingeschlafen.

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