Schwarzer Tod
Februar 1944 »Das ist das Datum, an dem diese tapfere Tat stattgefunden hat«, murmelte Leibowitz. »Vor 50 Jahren hat Ihr Großvater etwas so Heroisches, so Einzigartiges getan, daß ihm eine Ehre zuteil wurde, der sich außer ihm nur ein einziger anderer Nicht-Brite rühmen kann. Dieser andere Ordensträger war ebenfalls Amerikaner.«
»Wer?«
Der Rabbi richtete sich auf, so gut es ihm mit seinem alterssteifen Rücken gelingen wollte. »Der Unbekannte Soldat.«
Ich hatte einen Kloß im Hals. »Das kann ich nicht glauben«, sagte ich heiser. »Das ist das Ungewöhnlichste, was ich jemals gehört habe. Und auch gesehen«, fügte ich hinzu und hielt das Kreuz am Band hoch. Irgendwie kam es mir so schwerer vor, als wenn ich es in der Hand hielt.
»Sie werden noch etwas viel Ungewöhnlicheres sehen«, erklärte Leibowitz. »Etwas Einzigartiges.«
Mir zog sich vor lauter Erwartung der Hals zusammen.
»Sehen Sie unter der Polsterung der Schachtel nach. Es müßte noch dort sein.«
Ich reichte Rabbi Leibowitz das Kreuz und hob dann vorsichtig das Leinentuch hoch, das auf dem Boden der Schachtel lag. Darunter befand sich ein ausgefranstes Wollstück mit Schottenmuster. Fragend blickte ich zu meinem Gegenüber.
»Machen Sie nur weiter«, ermunterte mich Leibowitz.
Unter dem Stoff kam eine Fotografie zum Vorschein. Es war ein Schwarzweißfoto, dessen Kontraste so stark waren, daß es wie eines der alten Staubloch-Fotos aus dem Life-Magazin wirkte. Es zeigte eine Halbporträtaufnahme einer schlanken jungen Frau. Sie trug ein einfaches Baumwollkleid, und sie stand ein bißchen ungelenk vor dunklen Holzbrettern. Ihr schulterlanges Haar war blond und glatt, und schien vor dem Hintergrund des unbehandelten dunklen Holzes zu glänzen. Sorgenfalten zeigten sich um ihren Mund herum, doch es waren die Augen, die ihr Gesicht beherrschten - Augen, die so dunkel waren wie das Holz hinter ihr. Ich schätzte sie auf etwa 30.
»Wer ist das?« fragte ich. »Sie ist ... Ich weiß nicht. Sie ist nicht direkt schön, aber sehr ... lebendig. Ist das meine Großmutter? Als sie noch jünger war, meine ich.«
Rabbi Leibowitz winkte ungeduldig ab. »Alles zu seiner Zeit. Sehen Sie unter der Fotografie nach.«
Das tat ich und förderte ein sorgfältig gefaltetes Blatt Papier zutage. Es war zerknittert und vom Alter vergilbt. Ich begann, es auseinanderzufalten.
»Vorsichtig.«
»Ist das die Belobigung zu dem Orden?« fragte ich, während ich behutsam das Papier entfaltete.
»Nein, es ist etwas vollkommen anderes.«
Mittlerweile hatte ich es geöffnet. Die handgeschriebenen blauen Buchstaben waren fast gänzlich verblaßt, als wenn die Notiz versehentlich in eine Waschmaschine geraten wäre; doch einige Worte waren noch immer lesbar. Ich las sie mit merkwürdiger Verwunderung.
Auf meinen Schultern lasten diese Toten.
W.
»Ich kann es kaum lesen. Was bedeutet es? Und wer ist >W«
»Sie können die Schrift kaum lesen, Mark, weil sie 1944 vom eiskalten Wasser der Recknitz verwaschen worden ist. Was diese Notiz bedeutet, kann man nur erklären, wenn man Ihnen eine andere, verwickelte und äußerst entsetzliche Geschichte erzählt. Und das >W<, wie der Autor dieses Briefs sich so geheimnisvoll beschreibt, steht für Winston Churchill.«
»Churchill!«
»Ja.« Der alte Rabbi lächelte eigenwillig. »Und deswegen hängt natürlich eine Geschichte daran.«
»Meine Güte.«
»Haben Sie zufällig einen Brandy griffbereit?« fragte Leibowitz.
Ich holte die Flasche.
»In meinen Augen trägt Churchill die ganze Verantwortung.«
Der alte Rabbi hatte es sich in einem Lederohrensessel bequem gemacht, eine Häkeldecke über die Beine gelegt und schwenkte das Brandyglas in der Hand. »Sie wissen natürlich, daß Mac zunächst als Rhodes-Stipendiat nach England ging. Das war 1930, ein Jahr nach dem Börsenkrach. Er blieb zwei Jahre und wurde dann aufgefordert, noch ein drittes Jahr zu bleiben und sich dort zu immatrikulieren. Eine hohe Ehre. Nach seinem Abschluß kehrte er in die Vereinigten Staaten zurück. Ich bin sicher, daß er seine >Englische Periode< für abgeschlossen hielt. Aber er sollte sich irren.
1938 beendete er sein Medizinstudium und schaffte es irgendwie, auch noch einen Abschluß in Chemie während seiner Assistenzarztzeit zu machen. Mittlerweile schrieben wir 1940. Er stieg in die Praxis eines Freundes seines Vaters ein; doch er hatte sich kaum eingerichtet, als er einen Anruf aus Oxford bekam. Sein alter Tutor erzählte
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