Schwarzer Tod
ihm, daß einer von Churchills wissenschaftlichen Beratern von einigen Monografien beeindruckt gewesen sei, die Mac über chemische Kriegsführung während des Ersten Weltkriegs geschrieben hatte. Sie wollten, daß er einem britischen Team beitrat, das an der Entwicklung von Giftgas arbeitete. Amerika war zwar noch nicht in den Krieg eingetreten, aber Mac wußte, was auf dem Spiel stand. Englands Schicksal hing an einem seidenen Faden.«
»An soviel erinnere ich mich noch«, erwiderte ich. »Er ist nur unter der Bedingung gegangen, daß man ihn ausschließlich für Verteidigungsmaßnahmen einsetzen würde.«
»Ja. Das war ziemlich naiv, muß ich schon sagen. Auf jeden Fall hat er Ihre Großmutter nach England mitgenommen. Sie gerieten mitten in die Schlacht um England. Es war nicht leicht, aber er überredete Susan, wieder in die Vereinigten Staaten zurückzukehren. Hitler gelang es zwar niemals, in England einzufallen, doch da war es schon zu spät. Sie waren während der Operation getrennt.
»50 Jahre«, fuhr Leibowitz leise fort. Er hielt inne, als wäre er in Gedanken verloren. »Ich nehme an, das kommt Ihnen wie eine Ewigkeit vor, aber versuchen Sie trotzdem, sich diese Zeit vorzustellen. Mitten im Winter, Januar 1944. Die ganze Welt, einschließlich der Deutschen, wußte, daß die Alliierten im Frühling in Westeuropa einmarschieren würden. Die einzige Frage war, wo die Invasion stattfinden würde. Eisenhower war gerade zum Oberbefehlshaber der Operation >Overlord< ernannt worden. Churchill ...«
»Entschuldigen Sie, Rabbi«, unterbrach ich ihn. »Ich will nicht respektlos erscheinen, aber mich beschleicht das Gefühl, daß Sie mir die lange Version der Geschichte erzählen.«
Er lächelte mit einer Geduld, die er im Umgang mit hyperaktiven Kindern gelernt haben mußte. »Haben Sie einen dringenden Termin?«
»Nein, aber ich bin neugierig auf die Geschichte meines Großvaters, nicht auf die von Churchill oder Eisenhower.«
»Mark, wenn ich Ihnen einfach nur das Ende dieser Geschichte erzählen würde, dann würden Sie mir nicht glauben. Das meine ich ernst. Sie können nicht begreifen, was ich Ihnen sagen werde, ohne zu wissen, was dazu geführt hat. Verstehen Sie das?«
Ich nickte und versuchte, meine Ungeduld zu unterdrücken.
»Nein«, widersprach Leibowitz leidenschaftlich. »Das tun Sie nicht. Das Schlimmste, was Sie jemals in Ihrem Leben gesehen haben, alle üblen Dinge zusammengenommen, Kindesmißbrauch, Vergewaltigung, selbst Mord, all dies ist nichts im Vergleich zu dem, was ich Ihnen erzählen werde. Es ist eine Geschichte, deren Grausamkeit jedwede Vorstellungskraft übersteigt. Es ist eine Geschichte über Frauen und Männer, deren Heldenmut seinesgleichen sucht.« Er hob einen klauenartig gekrümmten Finger und sprach plötzlich sehr leise. »Nachdem Sie diese Geschichte gehört haben, wird Ihr Leben nie wieder so sein wie früher.«
»Das sind eine Menge Vorschußlorbeeren, Rabbi.«
Er trank einen Schluck Brandy. »Ich habe keine Kinder, Doktor. Wissen Sie, warum nicht?«
»Tja. Ich nehme an, Sie wollten keine. Oder Sie oder Ihre Frau sind sterilisiert worden.«
»Ich bin sterilisiert worden«, gab Leibowitz zu. »Mit 16 wurde ich von einigen deutschen Ärzten aufgefordert, mich auf eine Bank zu setzen und ein Formular auszufüllen. Das dauerte etwa eine Viertelstunde. Während dieser 15 Minuten beschossen sie meine Hoden von drei Seiten mit hochdosierten Röntgenstrahlen. Zwei Wochen später retteten ein jüdischer Chirurg und seine Frau mir das Leben, als sie mich in ihrer Küche kastrierten.«
Meine Hände fühlten sich plötzlich kalt an. »Waren Sie ... in den Lagern?«
»Nein. Ich bin nach Schweden entkommen, zusammen mit dem Chirurgen und seiner Frau; doch ich habe meine ungeborenen Kinder zurückgelassen.«
Darauf wußte ich nichts zu sagen.
»Das ist das erste Mal, daß ich es einem Christen erzählt habe«, bemerkte Leibowitz.
»Ich bin kein Christ, Rabbi.«
Er sah mich aus zusammengekniffenen Augen heraus an. »Wissen Sie vielleicht etwas, das ich nicht weiß? Ein Jude sind Sie auch nicht.«
»Ich bin gar nichts. Agnostiker trifft es wohl am ehesten. Ein professioneller Zweifler.«
Leibowitz musterte mich lange, und auf seinem runzligen Gesicht zeichneten sich Gefühle ab, die ich nicht zu deuten vermochte. »Das sagt sich leicht für jemanden, der so wenig durchgemacht hat.«
»Ich habe meinen Teil an Leid gesehen und einiges auch schon gelindert.«
Der Rabbi
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