Schwarzer Tod
hatte auch Erfolg damit. Jedenfalls fast. Doch während Klaus Brandt, zusammen mit einer Ehrengarde der SS, zum Tor stürzte und der Schuhmacher sich fragte, ob er wirklich das Wort Reichsführer gehört hatte, sagte Wolfgang Schörner leise: »Öffnen Sie Ihre linke Hand, Hauptscharführer.«
»Aber die Auslese!« protestierte Sturm. »Ich muß weitermachen!«
Schörner packte Sturms fleischiges Handgelenk. »Hauptscharführer, ich befehle Ihnen, die linke Hand zu öffnen.«
»Zu Befehl, Sturmbannführer!« Sturms Stimme klang erstickt von Furcht und Ärger. Während Motoren aufheulten, öffnete er die Hand.
Sie war leer.
Sturmbannführer Schörner starrte einen Augenblick lang darauf und sagte dann. »Stillgestanden, Hauptscharführer.«
Ohne zu zögern griff Schörner in Sturms Hosentasche. Ein gequälter Ausdruck flog über sein Gesicht. Er wühlte in der Tasche, zog dann die Hand heraus und öffnete sie nur wenige Zentimeter vor der Nase des Hauptscharführers.
Die Diamanten glitzerten wie blaues Feuer.
»Ich dachte, wir hätten dieses Thema besprochen«, sagte Schörner leise.
Sturm senkte den Blick. »Das haben wir, Sturmbannführer.«
»Würden Sie dann gern dem Reichsführer diese Diamanten in Ihrer Hosentasche erklären?«
Sturm erbleichte. Himmlers Edikt gegen die Ausplünderung der Juden zur persönlichen Bereicherung war sehr explizit: Auf Zuwiderhandlung stand die Todesstrafe. »Nein, Sturmbannführer«, sagte er.
Schörner packte Sturms linke Hand und drückte ihm die Diamanten hinein. »Dann sorgen Sie dafür, daß Sie sie loswerden.«
»Sie loswerden? Wie denn?«
»Schnell!«
Der Schuhmacher sah erstaunt zu, wie Hauptscharführer Sturm die Diamanten in den Schnee warf, als wolle er damit die Hühner füttern.
»Und jetzt«, fuhr Schörner fort, »beenden Sie die Selektion!«
Er drehte sich um und marschierte zum Haupttor. Seine Kniestiefel glänzten im Licht der Lampen.
Sturm starrte Benjamin Jansen wütend an. Dann schob er seine Luger ins Halfter zurück und trieb Marcus Jansen mit Tritten zu den anderen Todgeweihten. »Alle männlichen Juden zwischen 16 und 50 vortreten!« schrie er. »Wenn jemand, auf den das zutrifft, in einer Minute noch in der Reihe steht, wird jede zweite Frau aus der Reihe erschossen!«
Der Schuhmacher fühlte die schreckliche, wunderbare Erleichterung, die er jedesmal empfand, wenn er eine Selektion überlebt hatte. Von 39 erwachsenen männlichen Juden fielen 28 in die genannte Kategorie. Als die restlichen vortraten, fegte ein Konvoi aus grauen Militärfahrzeugen und einem schweren Truppentransporter am Appellplatz vorbei zum hinteren Ende des Lagers. Eine viereckige Standarte, die auf dem linken Schutzblech des längsten Wagens befestigt war, zeigte drei Dreiecke und einen Naziadler.
Also stimmt es, dachte der Schuhmacher. Heinrich Himmler ist also endlich gekommen, um sein Werk zu begutachten.
12
Hauptscharführer Sturms Truppen knüppelten die Verdammten mit ihren Gewehrstutzen und Schlagstöcken zum hinteren Teil des Lagers, während der Rest der Gefangenen im Schnee stehen blieb. Rachel Jansen hockte noch immer auf den Knien und umarmte ihre Kinder. Ihr Schwiegervater hatte noch nicht das Bewußtsein wiedererlangt. Der Schuhmacher ließ seinen Blick über die dezimierten Reihen der jüdischen Gruppe gleiten und suchte nach übriggebliebenen Freunden. Jetzt sah er nur noch graue Köpfe.
»Alle Gefangenen zurück in die Baracken!«
Der Schuhmacher ließ sich an den Rand der Gruppe abdrängen, als die benommene Menge sich in kleinere Abteilungen aufsplitterte und sich auf den Weg zu den sechs Gefangenenbarracken machte. Er wußte, daß er ihnen folgen sollte, aber irgend etwas hielt ihn zurück. Die Gefühle, die ihn durchströmten, waren so machtvoll, daß er zögerte, sich ihnen zu stellen. Seit mehr als einem Jahr hatte er den hinteren Bereich des Lagers nicht mehr besucht, und das aus gutem Grund. Hinter dem Krankenhaus stand halb vergraben in der Erde eine kleine, luftdichte Kammer, die als »Experimentalblock« gekennzeichnet war, von den Lagerinsassen jedoch schlicht »E-Block« genannt wurde - wenn sie denn überhaupt darüber sprachen.
Nur einmal hatte der Schuhmacher eine der »Sonderbehandlungen« beobachtet, die im E-Block stattfanden, und zwar von innen. Damals hatte er einen schweren Gummianzug getragen, mit einer versiegelten Gasmaske, die mit einem Sauerstoffzylinder verbunden gewesen war. Der andere Mann in der Kammer war ein
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