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Schwarzer Tod

Titel: Schwarzer Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Iles
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werdende Geräusch der Motoren. Angetrieben von einer morbiden Neugier rannte er über die Gasse auf die andere Seite des E-Blocks, hockte sich in den Schnee und preßte sein Gesicht an eines der Beobachtungsbullaugen.
    Die Sterilität der Szene erstaunte ihn. Es war weder Blut noch Kot zu sehen, nicht einmal ein winziges Fleckchen Schmutz. Dafür hatte der Dampf gesorgt. Aber die Körperhaltung der Toten verriet etwas von dem Irrsinn, der hier geherrscht hatte. Die 28 jüdischen Männer, die hier heute nacht gestorben waren, lagen dichtgepackt wie die Heringe da. Die meisten waren aufrecht stehend gestorben. Ihre Leichname waren in einem Knäuel von Gliedmaßen miteinander verflochten, und ihre tote Haut zeigte rosa Pusteln vom Hochdruckdampf. Ihre Augen waren weit aufgerissen und schienen aus den Höhlen zu quellen. Das Gesicht eines der Männer war an das Bullauge gepreßt, von dem aus Himmler zugeschaut hatte.
    Der Schuhmacher hätte beinahe laut aufgeschrien, als sich die Leichen in der Nähe der Tür zu bewegen begannen. Dann sah er, wie sich Ariel Weitz wie ein Grabräuber den Weg zwischen den Toten hindurch bahnte. Der Mann trug nicht einmal eine Gasmaske! Vielleicht hatte ja sein schlechtes Gewissen einen Todeswunsch in ihm geweckt. Weitz hielt die Nase in die Luft und schnüffelte; wie eine Hausfrau, die den Geruch in ihrem Badezimmer überprüft. Offensichtlich befriedigt griff er in die Tasche und zog eine Präzisionszange heraus. Dann beugte er sich über eine der liegenden Leichen. Der Schuhmacher konnte ihr Gesicht gut erkennen. Es war zu einer Maske des Schmerzes und des Entsetzens verzerrt. Es war der junge, holländische Anwalt Jansen.
    Weitz zog eine kleine Taschenlampe aus der Gesäßtasche und leuchtete in die Mundhöhle. Seine verabscheuungswürdige Mühe wurde vom Glitzern des Goldes belohnt. Vorsichtig schob er dem Toten die Zange in den Mund, legte sie um den Zahn und riß ihn aus dem Kieferknochen. Als spüre er, daß er beobachtet wurde, riß Ariel Weitz plötzlich den Kopf hoch ... und blickte genau in die Augen des Schuhmachers.
    Der Schuhmacher erstarrte und erwiderte Weitz' erschreckten Blick einige Sekunden lang, sah in die bodenlos scheinenden Abgründe seiner Augen. Dann rannte er über die verlassene Gasse und an der Wand des Krankenhauses entlang.
    Als er sich den Duschen der Insassen näherte, zwang er sich zu einem langsameren Schritt. Wer lief, zog sofort Gewehrfeuer von den Wachtürmen auf sich. Als er am Appellplatz vorüberkam, schob sich das Bild von den Diamanten des alten Holländers vor seine geistigen Augen. Lohnte sich das Risiko? Der Wert von Edelsteinen war während des Krieges sehr gefallen, jedenfalls in den Lagern. Eine wertvolle Familienbrosche brachte einem auf dem Schwarzmarkt vielleicht vier Kartoffeln ein. Aber die Zeiten änderten sich. Seit die Rote Armee immer schneller vorrückte, fingen die SS-Leute an, sich für Güter zu interessieren, die es ihnen ermöglichten, sich im Falle eines russischen Durchbruchs den Weg nach Westen zu erkaufen.
    Der Schuhmacher ging fünfmal über den festgetretenen Schnee, wo er und die Jansens während der Selektion gestanden hatten. Gerade als er sicher war, daß Hauptscharführer Sturm den Befehl Sturmbannführer Schörners mißachtet hatte und zurückgekommen war, um sich die Diamanten zu holen, glitzerte etwas auf dem Boden rechts neben ihm. Er bückte sich, nahm eine Handvoll Schnee und ging dann rasch Richtung Baracken. Auf dem Weg durchsiebte er den Schnee. Schließlich zählte er vier Diamanten in seiner Hand. Er schob die Steine in seine Tasche, kletterte lautlos über den Drahtzaun und ließ sich auf der anderen Seite zu Boden fallen.
    »Bitte! Bitte, schießen Sie nicht!«
    Der Schumacher preßte vor Schreck die Hände auf die Brust. Erst als er Rachel Jansen, die Frau des holländischen Anwalts, erkannte, beruhigte er sich wieder etwas. Sie stand im Schatten der Frauenbaracke. Ihre Kinder umklammerten ihre Beine. »Was machen Sie hier draußen?« fragte der Schuhmacher wütend.
    Die Holländerin zögerte zu lange. »Meine Kinder mußten auf die Toilette. Sie haben Durchfall.«
    »Lügen Sie mich nicht an! Sie wollten nach den Diamanten suchen, oder nicht?« Er erkannte an ihrer Miene, daß er recht hatte. Rachel Jansen hatte entweder Mut oder war eine Närrin. »Die SS hat schon alle Steine aufgesammelt«, fuhr er ein wenig freundlicher fort. »Sie müssen wieder zurückgehen.«
    Die Frau nickte zögernd.

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