Schwarzer Tod
mitzuhelfen, ein anderes Gefängnis im Land der Nummern zu bauen: das Lager Totenhausen, kaum 50 Kilometer von Rostock entfernt, seiner Heimatstadt. Dort ... hier ... hatte er sich seinen eigenen kleinen Platz in der Dunkelheit geschaffen, bewegte sich Schritt für Schritt durch sein Leben und hoffte bei jedem Schritt, nicht dem Gott der Lager zu begegnen ... dem Tod. Bis jetzt hatte er Glück gehabt, wenn denn Überleben etwas mit Glück zu tun hatte. Einige hingen der Überzeugung an, daß die Toten diejenigen waren, die Glück hatten. Manchmal glaubte er es fast auch. Aber heute abend, als er in einem namenlosen Moment die Tränen auf Weitz' Frettchengesicht gesehen und Rachel Jansen die beiden Diamanten gegeben hatte, war der Schuhmacher wieder zu Avram Stern geworden, und das jagte ihm furchtbare Angst ein. Denn erneut gab es etwas, was er verlieren konnte.
Eine Stunde, nachdem der Schuhmacher eingeschlafen war, stand Anna Kaas unter einem Baum auf einer dunklen Lichtung fünf Meilen nordöstlich von Totenhausen. Ein großer schwarzbärtiger Pole stand neben ihr und verschlang gierig den salzigen Schinken, den sie aus dem Vorratsraum des Lagers gestohlen hatte. Vor ihr auf dem Boden kniete ein hagerer junger Mann mit zerzaustem Haar und den langen, zarten Fingern eines Violinspielers. Er beugte sich über einen offenen Koffer und begann, kodierte Zahlenreihen zu morsen. Die kodierten Zahlen verbargen die Worte auf dem Zettel in Annas Hand. Während der junge Pole morste und sein älterer Bruder den Schinken herunterschlang, las Anna ihre Nachricht noch einmal.
Himmler hat persönlich der Sonderbehandlung heute nacht beigewohnt.
Praxistest von Soman 4 soll in 14 Tagen auf dem Versuchsgelände Raubhammer stattfinden.
Der Führer wird anwesend sein.
Sie entzündete ein Streichholz und steckte das Papier in Brand. Es verbrannte sehr schnell. Mit den Augen folgte sie dem dunklen Antennendraht aus dem Koffer bis in die Zweige der Bäume über ihnen.
Und sie fragte sich, wohin genau die Punkte und Striche der Morseschrift wohl gingen.
600 Meilen entfernt in Bletchley Park in England erhielt der junge Clapham die Nachricht, schrieb sie nieder und entschlüsselte sie. Dann hob er den Hörer ab und meldete einen Anruf zum SOE-Hauptquartier in der Baker Street an.
Brigadegeneral Duff Smith wurde aus seinem festen Schlaf auf einer Büroliege geweckt, um den Anruf entgegenzunehmen. Als er das Wort Scarlett hörte und die restlichen Worte der Nachricht vernahm, dankte er Clapham, legte auf, griff in eine Schüssel und spritzte sich Wasser ins Gesicht. Dann ging er ruhig ins nächste Büro auf dem Flur. »Barry«, fragte er, »wo ist Winston heute nacht?«
13
Rachel Jansen verbrachte ihren ersten Morgen als Witwe damit, sich mit aller Kraft gegen das Einschlafen zu wehren. Sie hatte zwar seit vielen Stunden nicht geruht, aber sie wollte nicht schlafen, bevor ihre Kinder nicht einigermaßen sicher waren. Sie saß verkrampft auf dem Boden, den Rücken gegen die Pritsche gelehnt, die ihr zugewiesen worden war. Es war eine von dreien, die wie Bücherregale an der Vorderseite des jüdischen Frauenblocks standen. Ihr Schwiegervater stand unsicher neben ihr. Ihre beiden Kinder, der dreijährige Jan und die zweijährige Hannah, saßen rechts und links neben ihr, die Köpfe auf ihre schlaffen Brüste gelehnt.
Mit brennenden Augen sah Rachel sich vorsichtig in der Baracke um. Seit einer Stunde starrten Frauen von jeder Größe und in jedem Zustand sie an. Sie verstand es nicht. Während der kurzen Zeit, die sie hier war, hatte sie sorgfältig darauf geachtet, niemanden zu beleidigen. Die Frauen, die sie im Geiste als die »Neuen Witwen« bezeichnete, diejenigen also, die gestern abend mit ihr angekommen und wie sie ihre Ehemänner verloren hatten, waren die einzigen, die nicht starrten. Sie schienen alle unter Schock zu stehen, je nach Frau verschieden stark. Aber die anderen starrten. Das einzige gemeinsame Charakteristikum, das die starrenden Frauen teilten, war ihr Haar. Bei einigen war es sogar schon einige Zentimeter lang.
Das waren die Alteingesessenen, dachte Rachel beklommen. Die Lagerveteranen starrten sie an. Rachel preßte die Schenkel zusammen und dachte an die beiden Diamanten, die ihr der Schuhmacher gegeben hatte. Es war zwar ein wenig unwürdig, sie an einem solch intimen Platz zu verstecken, doch sie hatte gesehen, wie weibliche Lagerveteranen dort Münzen, gerollte Fotos und andere kleine Wertsachen
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