Schwarzer Tod
anderen Frauen verkrochen sich sofort auf ihre Pritschen. Frau Hagan deutete auf Benjamin Jansen. »Unter die Pritsche!«
Der alte Mann rollte sich unter Rachels Pritsche und versuchte, sich so gut wie möglich zu verstecken. Eine Gefangene am Fenster flüsterte: »Schon gut. Es ist Anna!«
Rachel hörte einen kollektiven Seufzer der Erleichterung. Ein halbes Dutzend Frauen flüsterten Schwester Kaas, als wollten sie es weitersagen. Rachel sah fasziniert zu, wie eine kleine Gruppe von Gefangenen mit Frau Hagan an der Spitze sich aufstellte, um die angekündigte Besucherin zu empfangen. Sie wirkten beinahe wie eine Delegation. Die Tür wurde ohne Anklopfen aufgeworfen und trotz des winterlichen Windes offen gelassen. Eine große, wohlgeformte blonde Frau in einer blaubesetzten weißen Uniform trat ein und zog ein kleines Paket unter ihrem Rock hervor.
»Wir danken Ihnen in aller Bescheidenheit, Fräulein Kaas«, sagte Frau Hagan, nahm das Paket und reichte es an die anderen Insassen weiter.
Rachel war schockiert, als sie diese förmlichen Worte von eben der Frau hörte, die noch vor wenigen Augenblicken ihre, Rachels, Höflichkeit verspottet hatte.
Die blonde Krankenschwester wirkte ein wenig verlegen. »Wie geht es Frau Buhle heute?«
Frau Hagan schüttelte den Kopf. »Leider nicht besser. Aber sie hält durch. Wenn Sie sich vielleicht die Zeit nehmen könnten, noch einmal nach ihr zu sehen ... «
»Nicht heute. Wir haben im Krankenhaus zuviel zu tun.«
»Natürlich.«
Rachel starrte die beiden Frauen an. Schon die rein körperlichen Unterschiede zwischen ihnen waren erschreckend. Neben der blonden Schwester wirkte die Haut von Frau Hagan grau und trocken wie ein Staubtuch. Plötzlich dämmerte es ihr, daß Schwester Kaas Deutsche war. Sie gehörte zum Lagerpersonal!
Die Schwester sah beunruhigt auf die offene Tür hinter sich. »Vielleicht geht ja doch ein kleiner Blick«, sagte sie.
Frau Hagan führte sie zu einer Pritsche am Ende der Baracke. Die Lagerveteraninnen wichen vor der Schwester zurück, als bereiteten sie einer Heiligen den Weg, und schlössen sich dann hinter ihr zusammen. Als die Schwester sich niederkniete, konnte Rachel sie nicht mehr sehen.
Die Krankenschwester machte sie neugierig, aber Rachel blieb auf ihrer Pritsche hocken. Es war besser, sich nicht einzumischen. Sie nutzte diese kleine Pause, um ihre Augen ein wenig auszuruhen. Die letzten sieben Tage waren ihr wie ein Traum aus Entsetzen und unaussprechlicher Würdelosigkeit erschienen. Am schlimmsten war dieser Viehtransporter gewesen. Ohne wärmendes Feuer oder Nahrung hatten sie stundenlang auf Abstellgleisen gewartet, und Marcus hatte wie ein Hund um eine Handvoll Wasser für die Kinder kämpfe n müssen. Sie beide waren dann im Stehen eingeschlafen, gehalten von den anderen Körpern, während sie die Grenze nach Polen überquert hatten, jeder mit einem Kind in den Armen. Rachel hatte die nackte und fiebernde Hannah über den übervollen Eimer gehalten, während diese ihren revoltierenden Darm entleerte, und hatte sich anschließend selbst in den Dreck gehockt. Schließlich hatten sie sich einen Platz zwischen den Toten gesucht und sich weder um den Eimer noch um irgend etwas anderes gekümmert, sondern sich nur auf das Atmen konzentriert und darauf, sich diejenigen vom Leib zu halten, die ihren Verstand verloren hatten.
Der Zwischenstop in Auschwitz war eine gnädige Erlösung gewesen. Ein schweigsamer Mann in einem Anzug hatte sie aus einer Reihe glasig dreinblickender Gefangener geholt, die an einem Arzt vorbeimarschierte, und sie auf einen offenen Lastwagen verfrachtet, der sie zu einem anderen Zug gebracht hatte. Dieser Zug hatte sie drei Tage lang nach Nordwesten gebracht, zurück nach Deutschland, und sie schließlich auf einem von Bombenkratern übersäten Rangierbahnhof in Rostock ausgespien. Von dort aus waren sie mit Lastwagen hierher gefahren worden, nach Totenhausen, an den Ort, wo Marcus gestorben war.
Jetzt bin ich also Witwe, dachte Rachel merkwürdig unberührt. Es war gar nicht so schwierig, mit dieser Vorstellung zurechtzukommen in Anbetracht der Veränderungen, die sie in den letzten 30 Stunden hatte ertragen müssen. Sie spürte noch die scharfen Schnitte der Schere, mit der sie ihr das Haar bis auf die Schädeldecke abgeschnitten hatten. Sie erinnerte sich an ihren letzten schwachen Protest, als sie sich nackt hatte ausziehen müssen und neben dem Stacheldrahtzaun im Schnee auf und ab gehen sollte. Die
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