Schwarzer Tod
SS-Wachen hatten gekichert und diese menschenunwürdige Behandlung eine »medizinische Untersuchung« genannt. Dann waren in raschem Wechsel die Entlausung, die Tätowierung auf ihrem linken Unterarm, die Zuteilung der gestreiften Uniformen und der Holzschuhe, und die Anbringung der Abzeichen auf die Uniform gefolgt. Anschließend hatte man sie medizinisch erfaßt, und als letztes war sie mit scheinbarer Unausweichlichkeit Witwe geworden. Die Tränen waren schon vor einer Weile versiegt, und Rachel schwor sich, nie wieder zu weinen. Sie mußte sich zwingen, daran zu denken, sich auf eine einzige Sache zu konzentrieren: überleben!
Überleben war eine Fähigkeit, die sie schon in sehr jungen Jahren gelernt hatte. Sie war ein deutschstämmiges jüdisches Kind, das schon früh im Großen Krieg zur Waise geworden war. Man hatte sie nach Amsterdam zu einem kinderlosen jüdischen Ehepaar geschickt. Sie hatte das Paar rasch liebgewonnen, aber wichtiger war, daß sie dafür gesorgt hatte, daß die beiden Alten sie liebten. Selbst mit vier Jahren hatte sie schon gewußt, daß sie niemals mehr hungern wollte. Rasch hatte sie die holländische Sprache und Lebensgewohnheiten gelernt, und als sie eigentlich nach Deutschland hätte zurückkehren müssen, hatte das alte Paar sie längst adoptiert. Rachels Heirat mit Marcus Jansen, einem in Holland geborenen Juden, hatte ihre Verwandlung von einem deutschen Waisenkind zu einer holländischen Ehefrau vervollständigt.
Als die Nazis 1940 nach Holland einmarschierten und ihre Familie sich verstecken mußte, hatte Rachel sich den Erfordernissen eines Lebens auf dem Dachboden über dem Geschäft einer christlichen Familie so gut angepaßt, daß ihre ganze Familie ihrem Beispiel folgen konnte. Sie hatte auf diesem Dachboden sogar Hannah zur Welt gebracht. Aber die Ereignisse der letzten Woche, angefangen mit dem schrecklichen Geräusch der Gestapo, die die Geheimtür ihres Verstecks einschlug, hatte ihre Anpassungsfähigkeit beinahe bis über die Grenze hinaus strapaziert.
»Sie wird es nicht mehr lange schaffen«, sagte jemand auf Deutsch.
Rachel öffnete die Augen und sah, wie die deutsche Krankenschwester auf sie zukam, während sie Frau Hagan Instruktionen gab. Die Schwester hielt ein Stethoskop in der Hand. »Selbst ihre zusätzlichen Rationen werden ihr jetzt nicht mehr weiterhelfen«, erklärte sie. »Teilt sie unter euch auf. Haltet sie warm und ... «
Die blonde Frau blieb wie angewurzelt stehen. »Was tut der denn hier?«
Rachel folgte dem Blick der Schwester. Sie starrte auf Benjamin Jansen, der vergeblich versuchte, sich unter Rachels Pritsche zu verstecken.
»Er ist erst gestern angekommen«, erklärte Frau Hagan. »Er hat sich hier hereingeschlichen, um seine Enkelkinder zu besuchen. Wir werfen ihn raus, sobald Sie gegangen sind.«
»Das solltet ihr auch besser tun. Wenn Hauptscharführer Sturm ihn hier erwischt, dann hängt er noch vor Einbruch der Dämmerung am Baum.«
»Ich sorge dafür«, versprach Frau Hagan. »Was war das für eine Selektion? Gestern nacht war bisher die schlimmste!«
Schwester Kaas schien es plötzlich eilig zu haben. »Wir können nur beten, daß das Schlimmste vorbei ist.«
Frau Hagan nickte. »Sie sollten jetzt wohl besser gehen.«
Bevor sie hinaustrat, fuhr sich die Schwester mit beiden Händen durch ihr wundervolles blondes Haar. Auf Rachel wirkte das, als richte ein Ritter seine Rüstung.
»Wir beten, daß Sie bald wiederkommen«, sagte Frau Hagan hoffnungsvoll.
»Erwarten Sie nicht zuviel.«
»Nein, aber ich weiß, daß Sie tun, was Sie können. Auf Wiedersehen.«
Anna Kaas war fort. Frau Hagan drehte sich an der Tür um und marschierte wie ein Feldwebel zu Rachels Pritsche zurück. »Komm da unten raus, alter Mann!«
Benjamin Jansen rollte sich heraus und stand auf.
»Hör dir den Rest noch an, und dann schieb deinen Hintern für immer aus meiner Baracke. Hast du gehört, was die Schwester von dem Baum gesagt hat?«
»Ja. Aber ich habe im Lager keine Bäume gesehen.«
»Es ist kein richtiger Baum, Dummkopf. Es ist ein großer Pfahl, den man tief in die Erde getrieben hat. Man hat zwei Querbalken daran genagelt. Einen tief unten, den anderen hoch oben. Hast du den gesehen?«
»An der Seite des Krankenhauses?«
Frau Hagan nickte. »Die Deutschen nennen ihn den Strafbaum. Wir nennen ihn einfach den Baum.« Sie winkte einer Frau, Rachels Kinder außer Hörweite zu bringen. »Es gibt drei offizielle Bestrafungsmethoden in
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