Schwarzer Tod
mit, um der Blocksprecherin das Schlangestehen zu ersparen. Rachel wußte bereits, wo sie sich anstellen mußte, damit ihre Familienration vom Boden des Kessels genommen wurde. Dort hatten sich die Kohlblätter gesammelt. Trotzdem reichte die Nahrung nicht aus, um Jan und Hannah bei Kräften zu halten. Frau Hagan tadelte sie dafür, aber Rachel teilte die Hälfte ihrer Ration unter ihren Kindern auf.
Als Jan und Hannah schliefen, folgte Rachel der Blocksprecherin nach draußen. Sie hatte sie gerade erreicht, als ein Schatten hinter dem »Strafbaum« hervorsprang und ihnen den Weg versperrte. Noch bevor Rachel den Mann erkannte, spie Frau Hagan ihn an:
»Weg da, Wurm!«
Ariel Weitz zuckte angesichts des Ausbruchs der Blocksprecherin unwillkürlich zusammen. »Du solltest lieber zuhören«, meinte er warnend, »sonst landest du am Baum.«
»Sag, was du willst«, knurrte Frau Hagan, »und dann verpiß dich.«
Weitz deutete auf Rachel. »Der Sturmbannführer will sie sehen.«
»Schörner?« Frau Hagan runzelte die Stirn. »Was will Schörner von dem Mädchen?«
»Warum fragst du ihn nicht selber, mein fetter Blockwart?«
»Sie kommt sofort in sein Büro.« Frau Hagan warf dem Kollaborateur einen finsteren Blick zu. »Und jetzt laß uns allein, Wurm.«
Der Mann runzelte die Stirn, ging dann aber.
Frau Hagan spie erneut aus. »Weitz ist eine Zecke, die sich im Schatten des Naziwolfs fett frißt. Eines Tages werde ich ihn zerquetschen.«
»Was kann Sturmbannführer Schörner von mir wollen?« fragte Rachel. »Etwa Jan? Nicht meinen kleinen Jungen!«
»Nein, nein«, beruhigte Frau Hagan sie. »Weitz würde sich den Jungen einfach schnappen und ihn zu Brandts Quartier bringen. Bei Schörner könnte es alles mögliche sein. Vielleicht will er, daß du seine Unterkunft sauber machst. Vielleicht will er dich etwas über Holland fragen. Aber andererseits ... Es könnte auch sein, daß er dich will.«
»Mich?«
Frau Hagan warf ihr einen wissenden Blick zu. »In der Nacht, nachdem Himmler hier war, wurden Frauen ins Lager gebracht als Belohnung für Sturm und seine Männer. Das waren die Schreie, die du gehört hast, als du Türwärterin geworden bist. Das Schreien, das ich nicht hören wollte. Nun guck nicht so. Ich konnte nichts für sie tun. Außerdem kamen die Frauen aus Ravensbrück. Das ist das größte Frauenlager. Ich weiß nicht genau, was passiert ist, aber Schörner hat daran nicht teilgenommen. Er mischt sich nicht unter Sturm und seine Vandalen. Er betrachtet sich als einen deutschen Gentleman. Aber vielleicht hat Sturms kleine Party ihn erregt. Er ist und bleibt immerhin ein Mann. Normalerweise ertränkt er seine Wut mit einer Flasche. Aber wer weiß? Sei vorsichtig, Meisje.«
Rachel versuchte, ihren Atem zu beruhigen. Ihr war schwindlig. »Sollte ich ablehnen?«
»Wir sind hier nicht in Amsterdam. Hier gibt es keine Wahlmöglichkeit. Und denk an deine Kinder. Ich sorge dafür, daß man auf sie aufpaßt, bis du zurückkommst.«
»Bitte ... Danke.« Rachel drückte Frau Hagan den Arm. »Was soll ich bloß tun?«
Die ältere Frau wirkte unbeholfen. »Geh jetzt. Wenn du zu spät kommst, wird er nur umso härter zu dir sein.«
20
Rachel stand starr vor Entsetzen vor Sturmbannführer Wolfgang Schörner. Nach ihren Erfahrungen mit der SS und Frau Hagans Warnungen wirkte er mehr wie eine Erscheinung des Leibhaftigen denn wie ein Mann auf sie. Er saß ruhig hinter seinem Schreibtisch und trug eine saubere, graue Uniform. Nach dem Fußballspiel hatte er sich umgezogen. Rachel hörte, wie Ariel Weitz hinter ihr herumschlurfte. Schörner deutete mit dem Kopf auf die Tür, die sich sofort leise öffnete und schloß.
Schörner runzelte die Stirn. »Ein äußerst primitiver Mann«, bemerkte er, »aber nützlich.«
Rachel schwieg. Sie versuchte, Schörners Alter zu erraten. 30 konnte ungefähr hinkommen, obwohl die Augenklappe ihn älter aussehen ließ. Im Gegensatz zu Hauptscharführer Sturm und den anderen SS-Männern war Schörner nicht penibel rasiert. Der dunkle Schatten eines Dreitagebarts bedeckte Wangen und Kinn. Die beiden oberen Knöpfe seiner Uniformjacke waren geöffnet. Er trommelte mit den Fingern auf den Schreibtisch.
»Sie sind Frau Rachel Jansen?«
Rachel nickte. »Ja, Sturmbannführer«, antwortete sie auf deutsch.
Schörners Miene hellte sich sofort auf. »Ich dachte, Sie kämen aus Holland!«
»Das stimmt auch, Sturmbannführer.«
»Aber Ihr Deutsch ist perfekt. Perfektes
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