Schwarzer Valentinstag
Dreck. Auch an den Händen waren Ketten, die ihn an jeder Bequemlichkeit hinderten. Es war bitterkalt und feucht. Aber er spürte nichts mehr von alledem.
Bilder huschten an ihm vorbei wie die Ratten an seinem Essnapf. Er konnte sie nicht festhalten. Da war eine Frau. Er sah sie vor sich, er kannte sie nicht. Er sah, wie sie die Frau packten und wegschleppten. Er wusste nicht, dass er weinte, wenn er das sah. Dann glitten andere Bilder vorüber, er konnte sie nicht begreifen. Er spürte furchtbare Schmerzen in den Armen und Schultern – sie zogen jemand hoch an den Armen, die Beine mit Steinen beschwert. Aber er wusste nicht, dass er selbst der Gefolterte war.
Kinder sah er immer wieder vor sich, sechs Kinder. Einen Mann sah er an einem Bett. Ein Kind war krank. Er drückte das kleine Gesicht an seine Brust, wiegte es und sang ein leises Lied. Manchmal flüsterte er Namen, sechs Kosenamen. Er kannte sie nicht. Er weinte, ohne es zu merken. Dann sah er, wie die Kinder und die Frau festgebunden wurden. Die Flammen schlugen hoch und er sah sie nicht mehr. Dann kicherte er wieder und wusste nicht, warum. Wenn er kicherte, fror er so sehr, dass es ihn schüttelte. Aber er spürte nicht, dass er fror.
Er spürte die Stöße des Karrens, auf dem er angekettet lag. Er hörte die Rufe Mörder, Brunnenvergifter, und er hörte immer ein Kichern. Auch Vögel sah er, schwarze Vögel –
»Wir müssen ihn befreien.« Esther war Feuer und Flamme.
»Wie soll das gehen? Es ist sowieso alles zu gefährlich. Da können wir doch nicht hingehen und einen Gefangenen aus dem Gefängnis holen. Dazu einen, der nicht einmal der freien Reichsstadt Straßburg gehört, sondern der Stadt Bern!«
Esther hatte die Hände um die Knie verschränkt und wippte auf und ab: »Es wäre toll, wenn wir es könnten. Du und ich! Wir würden – « Sie hatte ihre schwarzen Augen auf Christoph gerichtet.
Nachum kam zurück, er warf einen schrägen Blick auf Christoph, seine Augen waren wie Kohlen: »Was habt denn ihr für Heimlichkeiten?«
Christoph wollte schnell etwas sagen, aber Esther kam ihm zuvor: »Wir überlegen gerade, wie wir den gefangenen Juden aus Bern aus dem Gefängnis holen können. Es geht ihm so schlecht, hat der Vater gesagt.«
»Es geht nicht. Das geht gar nicht«, sagte Christoph. Dann sah er Nachums Augen und verstummte.
Alle drei schwiegen. Die untergehende Sonne malte hoch auf der Wand des Rückgebäudes ein rötliches Dreieck, von unten kroch die Dunkelheit aus dem Gärtchen.
Nachum pfiff leise durch die Zähne: »Es ist ganz leicht.«
Esther hatte sich ganz zu Christoph gedreht.
Wie schön sie ist, dachte er atemlos.
Sie flüsterte fast, aber ihre Stimme war eindringlich: »Machst du mit? Wir verstecken ihn und pflegen ihn gesund. Nachum macht auch mit. Er sagt, es sei leicht. Bitte!«
Da gab er nach.
Sie schlichen in der Nacht aus dem Haus, was nicht schwer war, da die Kinder das volle Vertrauen der Eltern hatten.
»Das dürfen wir nicht missbrauchen«, hatte Christoph noch gesagt, bevor sie aufgebrochen waren.
»Eben, das rechtfertigen wir ja gerade«, sagte Nachum und seine Stimme klang übermütig. »Vater wollte ja auch, dass der Gefangene zu uns kommt. Er hat es ja erzählt.«
Gewaltig gegen das Licht eines untergehenden Mondes stand schräg vor ihnen die dunkle Masse des Münsters über den Häusern der Juden.
Sie mussten zum Diebsturm, was in der Nacht nicht schwer war. Sie durften sich nur nicht von einer Scharwache oder einem Nachtwächter erwischen lassen.
Nachum schien mehr und mehr von einer übertriebenen Fröhlichkeit und Zuversicht erfüllt? die Christoph nicht verstehen konnte: »Das gibt einen Spaß, wenn wir mit dem befreiten Juden ankommen. Das glaubt uns keiner!«
»Wie stellst du dir das überhaupt vor?«, fragte Christoph, dem es bei jedem Schritt das Herz zusammenzog.
»Lass das meine Sorge sein. Es ist ganz leicht. Was weißt denn du!«
»Du könntest es doch sagen. Wir sind doch alle in derselben Gefahr!«
»Ja, du könntest es uns ruhig sagen.« Die Stimme von Esther klang jetzt doch besorgt, wie sie am Ende einer schwarzen Gasse den Umriss des Diebsturms wie einen dicken Pfahl emporragen sahen.
Das Mondlicht hing noch an den höchsten Giebeln und nur der schwache Schein, der von diesem Licht in die Gasse herabfiel, wies ihnen den Weg. Ab und zu stolperten sie über Abfälle. Vor einigen Tagen hatte es geregnet und in den Gassen, die so eng waren, dass auch am Tag keine Sonne
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