Schwarzes Blut: Thriller (German Edition)
später – sie war zehn oder elf – stand sie wieder vor dem Schaufenster. Der schwarze Samt war zu einem stumpfen Braun vergilbt, das Gemälde selbst wirkte banal und geschmacklos. Allein die Augen, die sie auch damals so fasziniert hatten, hatten die Macht, eine Tür tief in ihrem Inneren aufzustoßen. Erneut mied sie den Laden, bis er eines Tages leer gestanden hatte und der Samtjesus verschwunden war.
Als sie mit dem baumelnden Kruzifix in den Händen auf Mintys Bett lag, war sie sich sicher, dass diese Erinnerung nicht aus heiterem Himmel aufgetaucht war. Das Christusbild stellte eine Verbindung zu etwas dar, das tief in den Schatten ihres Unterbewusstseins vergraben war.
Konnte man diesen präkognitiven Eingebungen trauen? Oder waren sie so wenig real wie Träume, die sich beim Aufwachen in Luft auflösten? Vielleicht waren sie Symptome der Veränderung, die sich in ihr vollzog – eine dramatische Veränderung, verursacht durch den Anderen, der sich langsam, Zelle für Zelle, ihrer bemächtigte.
Sie stand auf. Es würde eine Zeit dauern, bis sie sich für ihre Schicht im Diner einigermaßen präsentabel hergerichtet hatte. Als sie am Schminktisch saß und sich das Haar bürstete, wurde sie mit den zwei Spiegelbildern ihrer selbst konfrontiert, und plötzlich fiel es ihr wie Schuppen von den Augen: Dieses Gesicht, dieses hübsche bärtige Gesicht, gehörte nicht zu einem halb nackten, an einem Kreuz hängenden Körper – es gehörte einem barfüßigen Mann in Jeans und blutigem T-Shirt. Die Hände waren hinter seinem Rücken gefesselt, die hypnotischen Augen blickten in das Objektiv einer Fernsehkamera. Er lächelte selig in das Blitzlichtgewitter, während er auf den Rücksitz eines Streifenwagens geschoben und davongefahren wurde.
32
Obwohl die Krankenschwester langsam fuhr und ihr kleines Auto vorsichtig über den holprigen Schotterweg steuerte, kam es Junior Cotton vor, als würde die Landschaft nur so an ihm vorbeirauschen. Die Jahre der Katatonie hatten sein räumliches Vorstellungsvermögen geschwächt, sodass er seekrank wurde und befürchtete, jeden Augenblick in seinen Schoß zu kotzen.
Er wischte sich den Schweiß von der Stirn und nahm einen Schluck aus der Pepsi-light-Dose, die im Getränke halter des kunterbunten, an eine Jukebox erinnernden Armaturenbretts steckte. Die Cola war warm und schmeckte metallisch, und das süße Gebräu rutschte unangenehm träge über seine Zunge. Immerhin bewirkte die Kohlensäure, dass er einige Male zischend aufstoßen und so den Druck in seinem Magen verringern konnte.
»Wo bringen Sie mich hin?«, fragte die Frau.
»Fahr weiter«, antwortete er.
Er hatte kein besonderes Ziel – abgesehen davon, sich so weit wie möglich von der Klinik zu entfernen. Wie früher, als er mit seinen Eltern und später – wunderbare Jahre – mit seiner Mutter auf der Suche nach Abenteuern kreuz und quer durchs Land gereist war. Ohne Plan, ohne Karte, nur geleitet von einem unsichtbaren GPS, das sie zu den Leichtgläubigen und Schwachen führte.
Verschwommene Farbflecken erregten Juniors Aufmerksamkeit. Wäsche, die auf einer durchhängenden Leine neben einem heruntergekommenen Haus im Schatten einer Windmühle baumelte.
»Halt«, sagte er.
Die Krankenschwester gehorchte und trat mit ihren lächerlichen hochhackigen Schuhen auf die Bremse. Die lackierten Zehen sahen aus wie Fritten mit Ketchup, und Junior überkam so großer Hunger, dass er am liebsten auf der Stelle in ihr Fleisch geschnitten hätte. Er riss sich zusammen, befahl der Frau, die Arme hinter den Fahrersitz zu legen, und fesselte ihre Hände mit einem weiteren Kabelbinder aus Alfonsos Vorrat.
Dann kramte er in dem Durcheinander aus Make-up-Artikeln und Lippenstiften im Handschuhfach herum, schob eine Schere mit neonfarbenem Griff und eine mit Haaren bedeckte Bürste zur Seite, bis er auf mehrere benutzte Papiertaschentücher stieß.
»Weit aufmachen«, sagte er und stach sie mit dem Skalpell, als sie seiner Bitte nicht sofort nachkam.
Ihr Mund klappte auf und entblößte einen Lattenzaun aus spitzen Zähnen. Er stopfte die Taschentücher hinein. Sie würgte und atmete durch die Nase. Als sie keuchend nieste, quoll eine Rotzblase aus einem ihrer Nasenlöcher.
Junior öffnete die Wagentür und stieg aus. Er trat die Flip-Flops von sich und spürte den rauen Schotter unter seinen weichen Fußsohlen. Dann sah er zum Haus hinüber. Niemand zu sehen. Er ging in die Hocke und robbte leopardengleich über
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